ZENON MIKOŁAJCZYK
Meine Erlebnisse als Junge aus der Zeit deutscher Aktionen zur Aussiedlung von Polen aus den an das Deutsche Reich angeschlossenen Gebieten
Zenon Mikołajczyk wurde am 4. Juni 1933 im Dorf Długie geboren, in der damaligen Woiwodschaft Łódź (Lodz, Lodsch, in der Nazizeit auch Litzmannstadt). In den ersten Apriltagen des Jahres 1940 wurden alle Dorfbewohner dazu gezwungen, innerhalb einer halben Stunde ihre Häuser zu verlassen und ihr ganzes Hab und Gut deutschen Siedlern zu überlassen. Die Familie Mikołajczyk kam mit anderen Familien ins Durchgangslager Konstantynów bei Łódź, wovon sie dann nach vier Monaten nach Pilczyn im Generalgouvernement verschleppt wurde. Nach dem Krieg kehrte sie auf den verlassenen Bauernhof zurück, ihr Haus stand aber nicht mehr.

Schon einige Zeit vorher sprach man von der Gefahr möglicher Aussiedlungen aus unserer Heimatgegend, aber so richtig glaubte das wohl keiner. So war es für alle eine vollkommene Überraschung, als der Augenblick tatsächlich kam. Um fünf Uhr morgens wurde ich von meinem Vater geweckt: „Wir werden ausgesiedelt, wir haben nur eine halbe Stunde Zeit, zieh dich an!“. So hat für meine Familie und für unser ganzes Dorf Długie ein Aprilmorgen des Jahres 1940 begonnen. Ich war damals kaum sieben Jahre alt.

Ich sah sofort, dass ein deutscher Soldat mit schussbereitem Gewehr in unserer Wohnung stand. Ein anderer, genauso bewaffneter Soldat stand draußen und wachte darüber, dass niemand weglief. Nach einer halben Stunde, egal ob wir fertig waren oder nicht, mussten wir alle unser Haus und den Hof verlassen. Unsere Familie bestand aus Vater, Mutter, drei Söhnen und Großmutter, sowie aus meinem Onkel – dem Bruder meiner Mutter, der meinem Vater gewissermaßen als Bediensteter im Haushalt behilflich gewesen war. Mein Onkel wurde aber im Dorf zurückbehalten und musste für die Deutschen arbeiten, die gekommen waren, um die den Polen weggenommenen Höfe zu übernehmen. Er arbeitete bei ihnen sehr schwer während der ganzen deutschen Besatzungszeit – ohne angemessene Verpflegung und ohne jeglichen Lohn.

Nun aber zurück zur Aussiedlung unseres Dorfes: Als ich das Haus verlassen hatte, sah ich, dass draußen schon sehr viele Dorfbewohner unterwegs waren und dass einzelne Familien dabei waren, sich diesem Zug von Menschen anzuschließen. Alle trugen viele verschiedene Bündel bei sich – jeder hatte versucht, so viel wie möglich an Kleidern oder Essen mitzunehmen – aber das nützte nichts, weil die Deutschen uns danach zu Fuß drei Kilometer weit trieben, sodass viele, darunter auch mein Vater, allzu schwere Pakete zurücklassen mussten.

Die Stimmung unter den Vertriebenen war düster. Unser weiteres Schicksal war ungewiss. Die ganze lange Menschenkolonne wurde von bewaffneten deutschen Soldaten bewacht. Frauen beteten und weinten leise. Jeder hatte sein ganzes Hab und Gut, sein Haus, Tiere und Maschinen zurücklassen müssen. Meine Eltern besaßen ein Landgut von 10 Hektar Fläche, voll mit lebendem Inventar: zwei Pferde, vier Kühe, über ein Dutzend Schweine, einige Dutzend Geflügel. Jetzt waren sie gezwungen all das zurückzulassen. Auf diesem Marsch voll Tränen und Trauer wurde uns eine freundliche Geste entgegengebracht, von einer deutschen Frau, die seit vielen Jahren in unserem Dorf wohnte. Sie kam uns entgegen, um ihr Mitgefühl zu zeigen wegen des Unglücks, das uns widerfahren war und um wenigstens den am nächsten Vorbeigehenden einen selbstgebackenen Kuchen anzubieten. In unserem großen Dorf Długie hatten vor dem Krieg drei deutsche Familien gewohnt. Ihre Beziehungen zu den übrigen Bewohnern waren nach dem, was erzählt wurde, immer gut gewesen. Nicht einmal bei Ausbruch des Krieges im September 1939 hätten sie sich verschlechtert.

Der Fußmarsch mit Gepäck auf dem Rücken oder in den Händen ging ungefähr drei oder vier Kilometer weit, je nachdem, wie weit weg die jeweiligen Familien ihren Wohnsitz im Dorf hatten. Auf dem ganzen Weg wurden wir von den deutschen Soldaten als Menschen von niederem Rang und Wert, als Sklaven behandelt. Wir waren sehr verängstigt. Diese Etappe des Fußmarsches endete im Ort Dzierzbice. Dort fand eine Selektion statt. Zuerst suchte man Jugendliche im Alter ab 18 Jahren aus, die sofort als geeignet für Zwangsarbeit in Deutschland eingestuft wurden. Für die übrigen wurden zwei mit Planen abgedeckte Lastautos ohne Sitzplätze bereitgestellt. In diesen Autos pferchte man alle übrigen vertriebenen Bewohner unseres Dorfes buchstäblich mit Schlägen zusammen, so wenig Platz gab es darin. Die Planen wurden verschnürt und die Lastautos fuhren los. Wir sahen nichts und keiner von uns kannte das Ziel dieser Reise. Es stellte sich heraus, dass wir zuerst nach Kutno transportiert wurden, von wo aus man uns dann mit Bussen ins Durchgangslager von Łódź brachte. Dort fand eine Registrierung statt und es wurden noch andere bürokratische Tätigkeiten vorgenommen. Dabei wurden wir immer noch ständig von Deutschen bewacht. Dort holte uns der Abend ein. Den ganzen Tag lang, vom frühen Morgen bis zum Abend, hatten wir nichts gegessen und nichts getrunken, es war aber bezeichnend, dass wir weder Hunger noch Durst verspürten.

Von Lódź wurden wir noch am selben Tag, oder genauer gesagt schon in der Nacht (es war ungefähr 22.00 Uhr), ins Lager im nahegelegenen Konstantynów gebracht. Erst dort wurde unser Gepäck durchsucht, und auch wir wurden dort gründlichen Leibesvisitationen unterzogen. Männer und Frauen wurden dabei getrennt durchsucht. Meinen jüngeren Brüder nahm meine Mutter mit zur Durchsuchung, während mich mein Vater dorthin begleitete. Allen wurden Geld, Schmuckstücke und Wertgegenstände weggenommen. Nur Eheringe durfte man behalten. Sogar Verpflegung wurde beschlagnahmt. Ich und mein Vater gerieten an einen relativ gutmütigen Deutschen. Mein Vater nahm seine Brieftasche von allein heraus und gab ihm das Geld. Er musste nur noch kurz seinen rechten Schuh und seinen Mantel ausziehen, damit geprüft werden konnte, ob er dort nicht etwas versteckt hatte. Ich stand währenddessen an der Wand, einige Schritte von ihnen entfernt, und hielt eine große Teekanne in der Hand. In der Teekanne war eine in Stücke zerteilte Osterwurst versteckt, die mir eigentlich hätte weggenommen werden müssen, die aber alle schon längst vergessen hatten. Der Deutsche beachtete mich gar nicht, und als er mit meinem Vater fertig war, durften wir beide gehen. Die Wurst war gerettet.

Im Lager von Konstantynów wurden alle in einer Fabrikhalle untergebracht – jede Familie hatte ein Stück des Betonbodens für sich. Wir schliefen auf Stroh – jeder deckte sich damit zu, was er dabei hatte, meistens also mit den eigenen Kleidern. Das Lager war mit Stacheldraht umzäunt und wurde von bewaffneten Deutschen bewacht. Es soll schon Fluchtversuche gegeben haben, die aber laut Erzählungen alle mit der Erschießung der Fliehenden geendet hatten.

Zum Essen und Trinken bekamen wir gerade so viel, dass niemand verhungerte: Malzkaffee ohne Zucker und eine kaum genießbare Suppe, aber Brot war nach meinem Empfinden reichlich vorhanden. Im Lager herrschte Wassermangel – das Wasser musste regelmäßig in Fässern hergebracht werden. Zum Schieben des Wagens mit den Fässern wurden immer vier Männer abkommandiert. Im Lager bildete sich jedes Mal eine Schlange derjenigen, die den Wagen schieben wollten. Für sie war das eine Gelegenheit, auch nur für eine Weile ins Freie zu kommen oder manchmal sogar etwas für die Kinder zu besorgen. Meinem Vater gelang es ein paar Male mitgehen zu dürfen, um Wasser zu holen.

Nach drei oder vier Monaten mussten wir ganz unerwartet das Lager verlassen und wir wurden, immer noch bewacht, mit einem Zug bis zur Eisenbahnstation von Garwolin gebracht. Erst dann endete für uns die deutsche Bewachung und wir wurden polnischen Behörden übergeben. Mit einem Bauernfuhrwerk wurde meine Familie nach Łaskarzewo gebracht, von wo aus der Gemeindevorsteher uns dann nach Pilczyn schickte. Wir fanden Unterkunft bei einem dortigen Bauern, der eine freie Kammer mit einem kleinen Fenster hatte. In den ersten Nächten schliefen wir auf dem Fußboden.

Am Anfang halfen uns die Bewohner dort dabei, nicht zu verhungern, indem sie uns Brot und Milch gaben, obwohl sie selbst sehr arm waren. Mein Vater nahm gelegentliche Arbeiten an, um die Familie zu versorgen, bis er sich schließlich darauf spezialisierte, Dächer mit Stroh zu decken. Er machte das nach einer in jener Gegend unbekannten Deckmethode. Im Winter fertigte er Schuhe mit Holzsohlen. Dort erlebten wir die Befreiung, immer noch darauf hoffend, nach Hause zurückzukehren.

Nach dem Krieg kehrten wir dann in unser Heimatdorf zurück. Ich war damals schon elf Jahre alt und ich erinnere mich noch daran, wie wir einige Tage lang mit verschiedenen Beförderungsmitteln unterwegs waren – mit Fuhrwerken und einem Zug mit offenen Waggons. Unser Haus stand nicht mehr. Eine deutsche Familie, die außer unserem Hof auch noch einen anderen übernommen hatte, hatte das „überflüssige“ Gebäude abgerissen. Sie hatte auch alle Tiere mitgenommen, sodass keine mehr zurückgeblieben waren. Die Deutschen hatten es geschafft, vor der anrückenden Front samt unseren Pferden, Wagen und anderen Gütern zu flüchten. Im Herbst hatten sie nicht einmal Wintergetreide gesät.

Ohne Hilfe von irgendjemandem begann mein Vater, unseren ganzen Bauernhof wiederaufzubauen.