Die Germanisierung polnischer Kinder

Die deutschen Besatzer kamen relativ schnell zu dem Schluss, dass die Germanisierung der an das Dritte Reich angeschlossenen polnischen Gebiete nicht nur mittels Besiedlung durch Deutsche zu erreichen war. Das Konzept der Germanisierung eines Teils der einheimischen Bevölkerung wurde immer populärer, dafür sprachen auch wirtschaftliche Aspekte. Einerseits sollte die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen ihre Arbeit effizienter machen, andererseits sollten die germanisierten Familien ausreichenden Nachschub an neuen Rekruten für die Wehrmacht sichern. Mithilfe dieser Argumentation stimmte Hitler einer Massengermanisierung der in Schlesien und in Pommern lebenden Bevölkerung zu.

Besonders grausam und unmenschlich lief die Germanisierung der polnischen Kinder ab. Bereits 1941 stimmte Himmler der Idee zu, polnische Kinder aus dem Wartheland zu Germanisierungszwecken ihren Familien wegzunehmen. Anfang 1942 wurden die Germanisierungsaktionen auf alle besetzten Gebiete ausgeweitet. Sie begleiteten auch die breit angelegten Aussiedlungen, z.B. die Aussiedlung des Zamość‐Landes. Ab diesem Zeitpunkt begann die Suche nach polnischen Kindern, die den durch die Nazis definierten Rassekriterien entsprachen.

Rassenselektion der polnischen Ausgesiedelten, Ort und Datum unbekannt (IPN)

In erster Linie wurde in Waisenhäuser nach solchen Kindern gesucht. Im nächsten Schritt wurden Erziehungsberechtigten ihre Kinder weggenommen, z.B. Eltern, die wegen Untergrundtätigkeiten verhaftet worden waren, die sich der Germanisierung entgegensetzten oder Eltern aus Mischehen. Im Reich betraf die Germanisierung Kinder polnischer Zwangsarbeiter. Für die Durchführung der Germanisierung waren Institutionen wie das Stabshauptamt des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums, das Rassen‐ und Siedlungshauptamt der SS, die Volksdeutsche Mittelstelle (VOMI) und die Lebensborn e.V. verantwortlich. Ganze Familien aus Pommern, Großpolen, Kujawien und ausgewählte Kinder, die in der ersten Selektionsetappe als germanisierungsfähig eingestuft wurden, wurden in die Filiale des Rassen‐ und Siedlungshauptamtes an der Spornastrasse in Łódź gebracht. In diesem Lager wurden zusätzliche, detaillierte Untersuchungen durchgeführt, um auf dieser Grundlage Personen mit besonders vielen arischen Eigenschaften auszuwählen. Rassenuntersuchungen wurden mehrfach und in verschiedenen Einrichtungen durchgeführt. Sie waren äußerst genau, geleitet von Experten des Rassenamtes oder von Ärzten des Gesundheitsamtes. Die Kinder wurden anhand von 62 Kriterien bewertet, darunter Augenfarbe, Haarfarbe, Körpergröße, Gewicht, Körperproportionen, Schädelform etc.. Die Kriterien waren auf Basis anthropometrischer Messungen definiert worden. Auf dieser Basis wurde die Zugehörigkeit zu einem von elf Rassentypen bestimmt. Kinder, die die Rassenanforderungen nicht erfüllten, wurden in Konzentrationslager gebracht, darunter in speziell für sie eingerichtete Lager (z.B. in Lodz und Konstantynów). Kinder, bei denen man genetische Defekte feststellte, unterzog man nicht selten grausamen Experimenten oder sie fielen dem Euthanasie‐Programm zum Opfer. Diejenigen hingegen, die die Rassenuntersuchungen positiv abschlossen, kamen in Heimschulen (ältere Kinder) bzw. in Lebensbornheime (jüngere Kinder).

Kinder des Gaukinderheims Bruczków / Bruckau, 1942 (ZDPG)

Hier wurden die Kinder der eigentlichen Germanisierung unterzogen. Sie besuchten Schulen, in denen deutsch unterrichtet wurde. Ungehorsame Kinder wurden geschlagen und auch für Polnischsprechen gab es strenge Strafen. Kontakt mit der Familie war verboten. Die Personalien der Kinder wurden aus den Karteien der Meldeämter gelöscht, um so ihre wahre Identität zu verschleiern. Sie bekamen neue Vor‐ und Nachnamen, man änderte die Geburtsdaten und stellte falsche Geburtsurkunden aus. Lebensborn führte zu diesem Zweck ein eigenes Einwohnermeldeamt. Nachdem all diese Maßnahmen abgeschlossen waren, wurden die Kinder zur Adoption an deutsche Familien freigegeben.

Die Deutschen entführten auch in großer Zahl Kinder in den ehemaligen Ostgebieten Polens, wo im Jahr 1944 die Heeresgruppe Mitte und die 9. Armee einige Tausende Kinder verhafteten, um sie zu germanisieren.

Es ist äußerst schwer, genau zu ermitteln, wie viele Kinder während des Zweiten Weltkriegs der Germanisierung unterzogen wurden. Schätzungen zufolge beläuft sich ihre Zahl auf 50‐200000. Durch die Suche des Roten Kreuzes nach Kriegsende kehrten nur etwa 15 bis 20% dieser Kinder zu ihren Familien nach Polen zurück.

Das Drama der germanisierten Kinder war ein doppeltes – zum einen der Moment, in dem sie ihren Eltern weggenommen wurden – zum anderen der Moment der Rückkehr. Jüngere Kinder erinnerten sich nicht mehr an ihre Familien und konnten kein Polnisch mehr. Von Altersgenossen wurden sie als Deutsche angesehen und in weiten Kreisen stigmatisiert und abgelehnt.