Der Autor wurde 1932 geboren. Er wurde von seiner Mutter in einer Geburtsklinik in Poznań (Posen) zurückgelassen. Ab 1937 war er Pflegekind im Katholischen Kinderheim in Pleszewo. Dort überraschte ihn der Ausbruch des Krieges.
Am 7. Mai 1941 wurde ich in ein Germanisierungslager, ein sogenanntes Jugendlager für polnische Kinder, nach Kobylin, Landkreis Leszno, deportiert. Die Lebens‐ und gesundheitlichen Bedingungen im Lager in Kobylin waren schlecht. Das deutsche Personal reagierte nicht auf unsere Bedürfnisse. Viele Kinder waren krank. Die schlimmsten Fälle kamen ins Krankenhaus in Krotoszyn. Als Allheilmittel galten Kräuter und Schröpfung. Die häufigsten Krankheiten waren dagegen Magenbeschwerden und dauernde Erkältungen. Wir waren stets hungrig. Unsere heimlichen Ausflüge in den nahe gelegenen Gemüseladen endeten aber mit Durchfall.
Die Hauptnahrung waren grobe Grützen, Suppen aus getrocknetem Brot, Suppen aus gelber Kohlrübe, in Leinöl gebackene Kartoffelpuffer, seltener auch zu gleichen Teilen mit Wasser verdünnte Milchsuppen, Mehlwassersuppen mit gebratener Zwiebel, graue Kartoffelklöße, mit Zuckerrübensirup gesüßter schwarzer Malzkaffee, trockenes Brot (seltener mit Schmalz bestrichen), Kohlsuppen, manchmal eine Art rote Grütze. Es gab keine Süßigkeiten.
Wir schliefen unter Wolldecken auf Strohsäcken, die dort in den Räumen ausgelegt waren. Eine große Plage waren Insekten. Zu ihrer Bekämpfung wurden vor allem den Mädchen die Köpfe kahlgeschoren, mit Petroleum eingerieben und dann Kopftücher umgebunden. Einmal in der Woche wurden wir in Bottichen gebadet, unter Verwendung von Lysol. Die Toiletten wurden mit Chlorverbindungen desinfiziert.
Jeder Tag wurde mit einem Appell begonnen und mit einem weiteren beendet – draußen auf dem Platz, wenn es warm war, beziehungsweise in den Fluren oder im Esszimmer (im Refektorium) bei der Küche, wenn es kalt war.
Unter diesen Umständen unternahm ich zusammen mit einem anderen Heimkind, das aus Krotoszyn stammte, einen Fluchtversuch. Nach einem oder zwei Monaten wurden wir von der Polizei aus Krotoszyn ins Heim zurückgebracht. Vorher bekamen wir aber ordentlich Prügel (wobei es viel schlimmer hätte ausgehen können).
Die Kinder wurden in namentlich aufgerufenen Gruppen untersucht. Vom Arzt oder von einer Krankenschwester, je nachdem, um was für Untersuchungen es sich handelte. Der Prozedur der „Rassenuntersuchung“ wurde jedes Kind einzeln unterzogen, und zwar völlig nackt. Die Untersuchungen betrafen frühere Krankheiten, Körpergröße, Körpergewicht, körperliche Bewegungsfähigkeit, Gleichgewichtssinn, Schärfe des Seh‐ und Hörvermögens. Es gab auch Urin‐, Blut und Röntgenuntersuchungen, Untersuchungen zur seelisch‐körperlichen Entwicklung eines Kindes (Lösen von logischen Aufgaben), Schädelmessungen sowie Messungen der Augenstellung und der Genitalien. Die Ergebnisse wurden jeweils in eine mit Foto versehene Karte des Kindes eingetragen. Die Karten waren speziell für solche „Rassenuntersuchungen“ angefertigt worden. Die Enduntersuchungen wurden von Dr. Hildegarde Hetzer durchgeführt, einer Fachärztin aus dem Lebensborn‐Heim in Łódź, die darüber entschied, welches Kind sich zur Germanisierung eignete.
Kinder, die für die Germanisierung als ungeeignet befunden wurden, wurden in andere Lager geschickt, meistens nach Kalisz, wo sich eine Außenstelle des Rasse‐ und Siedlungshauptamtes der SS in Łódź befand.
Im Jugendlager Kobylin war ich vom Mai 1941 bis zum Juni 1942, d.h. bis ich schlussendlich zu denjenigen Kindern gerechnet wurde, die die Selektion überstanden hatten, und mein Name bei einem Lagerappell aufgerufen wurde.
Im Sommer 1942 kam ich zusammen mit 30 anderen Kindern als Ostland‐Kind in ein Ausbildungslager der Hitlerjugend in Niederaltreich (Niederbayern), und zwar in eine sogenannte Lebensborn‐Heimatschule. Ich blieb dort vom Juni 1942 bis zum Juli 1943, wo ich Deutsch lernte, mich der neuen Umgebung anzupassen versuchte und auf die Änderung meiner Nationalität wartete.
Das Lager wurde von Lebensborn‐Lehrern und uniformierten Funktionären geleitet und stand unter der Aufsicht von SS‐Männern, die regelmäßig zu Kontrollbesuchen vorbeikamen. Kommandant der Schule war SS‐Sturmbannführer Hartmann.
Die Schule befand sich in einem abgetrennten Teil eines Benediktinerklosters. Sie wurde zwar geheim gehalten, es lässt sich jedoch nicht ausschließen, dass die einheimische Bevölkerung von ihrer Existenz wusste.
Die Ausbildung umfasste unter anderem Kulturunterricht, Filmvorführungen, Sportunterricht im Arbeitsdienstheim und die Teilnahme an einem Jugendtreffen in Regensburg im Herbst 1942. Am Ende der Ausbildung fand eine Prüfung statt, die von Lebensborn‐Vertretern und uniformierten SS‐Männern abgehalten wurde. Nachdem ich sie bestanden hatte, bekam ich einen anderen Namen, Henryk Wojciechowski, der ich bis dahin gewesen war, wurde zu Heinrich Wochinger. Mir wurde außerdem der Nationalitätsstatus eines „reichsdeutschen Kindes“ zuerkannt, der mir nach Erreichung der Volljährigkeit die deutsche Staatsbürgerschaft garantierte. 1943 wurde ich ins Lager Partsch bei Salzburg in Österreich verschickt.
Mit einem im Lebensborn‐Amt ausgestellten Schein, der meine reichsdeutsche Herkunft bestätigte, hatte ich die gleichen Rechte wie die Staatsbürger des Deutschen Reiches. Mit meinem neuen Namen wurde ich der Familie Engelbert Berger in Dorfgastein in Pflege gegeben.
Für die Zeit meiner Gewöhnung an die neue Umgebung bekam ich vom Lebensborn‐Amt einen Betreuer zugeteilt, der damit beauftragt war, den Anpassungsprozess bei mir zu überwachen. In der Praxis bedeutete das aber nur, dass ich an eine bestimmte Adresse jederzeit meine eventuellen Eindrücke oder Klagen schicken durfte.
In meiner Pflegefamilie hatte ich gute Bedingungen zum Leben und zum Lernen. Ich spürte ihre Zuneigung und Fürsorge. Nach dem Schulunterricht arbeitete ich nach Möglichkeit bei der Versorgung des Viehs (Schafe, Ziegen, Kühe, Pferde) und ich half bei allen Arbeiten im Haushalt mit. Ich hatte volle Bewegungsfreiheit. Auf Anraten der Hausleute machte ich in der Zeit vor Weihnachten 1943 von der mir gegebenen Adresse Gebrauch, indem ich in einem Brief meine Eindrücke beschrieb und um ein Paar Skier für den herannahenden Winter bat. Unerwartet tauchte mein Betreuer persönlich bei uns auf. Er brachte mir Skier und auch andere Geschenke mit. Ich hatte allen Grund, zufrieden zu sein und konnte meine Freude nicht verbergen. Danach kontaktierte ich ihn aber nicht mehr – ich hatte keine Wünsche an ihn und auch keinen Grund zum Klagen.
Bei nostalgischen Anwandlungen summte ich leise ein Lied vor mich hin, das ich aus meiner Kindheit kannte, um die polnische Sprache nicht zu vergessen: „Szła dzieweczka do laseczka…” („Es ging ein Mädchen in ein Wäldchen…“). Zugleich versuchte ich, den Text ins Deutsche zu übersetzen.
Der Hausherr sprach oft davon, dass er mich adoptieren und an Stelle seines Sohnes, der bei Kämpfen an der Ostfront in Ungarn gefallen war zu seinem Erben machen wolle.
Die Zeit bis zur Befreiung von Österreich durch die Alliierten (die amerikanische Besatzungszone) habe ich noch als bedeutsam in Erinnerung . Der Abschied von meinen Pflegeeltern war für beide Seiten nicht leicht. Mein Talisman aus jener Zeit ist ein getrocknetes Edelweiß, das vom Gipfel des Schuhflickers stammt.
Durch Bemühungen der Polnischen Militärmission und des Polnischen Roten Kreuzes konnte ich im späten Herbst 1945 nach Polen zurückkehren. Von Salzburg nach Poznań (Posen) reiste ich über Böhmen, Międzylesie (Mittelwalde) und Wrocław (Breslau) unter Aufsicht einer Familie aus Poznań, deren Name mir nicht bekannt war.
Im Repatriierungslager von Salzburg war ich das einzige Kind unter lauter Erwachsenen – ich kann mich an kein anderes erinnern. Bis heute bewahre ich einen im Lager gebastelten Holzkoffer für persönliche Sachen auf. Vor meiner Abreise wurden mir vor Ausstellung meiner Ausweispapiere Fingerabdrücke abgenommen sowie ein Foto für meine Repatriierungskarte gemacht. Jeder von uns wurde desinfiziert, dann wurde uns je ein Platz in einem Güterwagen zugewiesen. Wir bekamen Nahrungspakete für eine zweitägige Reise.
Mein weiteres Leben nach 1945 war nicht leicht, wie übrigens auch das aller anderen, die aus der Vertreibung zurückgekehrt waren. Ich war auf mich selbst und auf soziale Hilfe angewiesen. Nach meiner Ankunft in Poznań wurde mein Name beim Staatsamt für Repatriierungen eingetragen, das in Baracken auf dem Platz am Hauptbahnhof seinen Sitz hatte. Ich erhielt damals einen Betrag von 100 Zloty für notwendige Ausgaben und einen vom Staatsamt ausgestellten Schein als Ausweis sowie einen anderen, der mich an die Woiwodschaftsabteilung für soziale Hilfe in der Dąbrowski Straße verwies.
Durch Bemühungen des Polnischen Roten Kreuzes und der Sozialhilfeabteilung wurde ich zunächst im Ursulinen‐ Kinderheim in der Mariacka Straße untergebracht, und danach – weil Zofia und Michał Ślusarek, meine Pflegeeltern aus der Zeit vor dem Krieg, weder kontaktiert noch deren Familie ausfindig gemacht werden konnte – in ein Kinderheim in Broniszewice bei Pleszewo verlegt, das von Dominikanerinnen geleitet wurde.