Die Autorin wurde 1938 in Gdynia geboren. Ihre Mutter starb in den ersten Kriegstagen. Während des Krieges wurde die ganze Familie nach Łódź ausgesiedelt. Als Barbara vier Jahre alt war, wurde sie ihren Großeltern weggenommen und zur Germanisierung bestimmt. Ihre persönlichen Daten wurden geändert und sie wurde bei einer deutschen Familie untergebracht. Ihre wahre Identität erfuhr sie erst im Jahre 1948, als sie vom Polnischen Roten Kreuz als polnisches Kind identifiziert wurde und dann in ihr Heimatland zurückkehrte.
Der Krieg dauerte für mich viel länger als bis zum Mai 1945. Das war die Folge des Entnationalisierungsprozesses, dem ich ausgesetzt war. Mir wurde meine Identität sowie das Gefühl, zu wissen, wohin ich wirklich gehöre, genommen.
Eine Urkunde vom Staatsarchiv in Łódź besagt, dass „Barbara Gajzler, geboren am 1. oder 2. Februar 1938, vom 21. Februar 1942 bis zum 9. März 1942 im Kinderheim in der Przędzalniana Straße 66 in Łódź untergebracht war. Danach wurde sie ins Kinderheim in der Lokatorska Straße 12 verlegt und am 27. Mai 1942 nach Bruczków geschickt. Von dort wurde sie ins Dritte Reich deportiert und der deutschen Familie Rossmann in Pflege gegeben. Im Oktober 1947 wurde sie von polnischen Repatriierungsbehörden als polnisches Kind identifiziert“. Aber was passierte davor?
Aus den Erzählungen meiner Großmutter Kossak (die Mutter meiner Mutter) folgt, dass ich am 1. Februar 1938 in Gdynia geboren wurde, und zwar in einem Haus, in dem meine Eltern mit den Eltern und den Geschwistern meiner Mutter wohnten.
In den ersten Tagen des Krieges war meine Mutter an einem Herzinfarkt gestorben. Die ganze Familie wurde ausgesiedelt. Die Jüngeren wurden in Arbeitslager auf dem Gebiet des Dritten Reiches verschleppt, während ich und meine Großeltern nach Łódź geschickt wurden, wo wir in ein altes Hinterhaus in der Lipowa Straße einzogen, oder genauer gesagt, in eines der uns zugeteilten Zimmer. Eben aus jener Wohnung brachten mich die Deutschen im Februar 1942 ins Kinderheim in der Przędzalniana Straße. Dort fand mich meine Großmutter nach zwei Wochen nicht mehr. Nach dem Krieg begann sie, mich über das Polnische Rote Kreuz zu suchen. All das erfuhr ich aber erst nach meiner Rückkehr nach Polen.
Ich versuche jetzt, einige mit Kinderaugen gesehene Bilder und Erlebnisse aus meiner Kriegskindheit zu beschreiben, die ich noch in Erinnerung habe. Mein Gedächtnis reicht bis zu meinem vierten Lebensjahr zurück. Ich war in einem Haus mit einem großen Saal mit Fenstern und einem breiten, halbkreisförmigen Fensterbrett, auf dem ich oft saß. Dort waren viele Kinder und wir schauten oft zusammen auf eine große Wiese hinaus. Heute weiß ich, dass die Wiese nur ein großer Rasen, das Haus dagegen ein Lebensborn‐Heim in Bad Polzin war. Die Kinder wurden ständig besehen, untersucht, gemessen und vor allem bestraft. Wenn ein Kind sich bepinkelte, bekamen alle anderen Kinder dafür Prügel. Ich glaube, dass sie sich eben aus einer großen Angst so oft bepinkelten, die uns alle nie losließ. Es verging also kein Tag ohne derartige Vorfälle.
Dort wurde auch mein Name geändert. Ich hieß von da an Bärbel Geisler, geboren am 2. Februar 1939. Ich war also um ein Jahr und einen Tag jünger, als ich es wirklich war – ganz typisch für Kinder in Lebensborn‐Heimen.
Ich kann den Tag nicht vergessen, als ein älterer Herr kam, um mich zu seinem Haus mitzunehmen. Wie alle übrigen Kinder dort hatte ich keine Haare, ich stand vor ihm nur in einem Höschen und einem Hemdchen. Ich weinte, weil man mir mein weißes Pelzjäckchen nicht geben wollte.
Nach meiner Rückkehr nach Polen sagte man mir, dass die Deutschen mich eben in dem weißen Kaninchenpelzjäckchen von meiner Oma weggeholt hätten. Daraus ergibt sich, dass ich meine Vergangenheit immer nur mit diesem Pelzjäckchen assoziiert habe.
Der ältere Herr wickelte mich in sein Jackett ein und wir fuhren so nach Lemgo. Wir wurden dort von zwei Frauen willkommen geheißen, die bei meinem Anblick in Tränen ausbrachen. So weinten wir alle drei. Sie badeten mich, gaben mir zu essen und legten mich in ein Kinderbett. Ich weinte noch lange, bevor ich einschlief. Als ich wieder aufwachte, hatte ich plötzlich eine „Mutti“, einen „Vati“ und eine „Oma“. Ich war die kleine, wilde Bärbel, eine Waise „nach dem Tod eines deutschen Offiziers“. In einem Zimmer meines neuen Zuhauses hing das Bild eines Mädchens – das war Ursel, die im Alter von 9 Jahren gestorben war. Sie war Vorbild für mich. Ich sollte in ihre Haut schlüpfen. Ich trug ihre Sachen, aber ich konnte nie ganz so wie sie werden, trotz verschiedener Bestrafungen und strenger Disziplin, die in dem Haus herrschte. Ich war einfach anders.
Heute denke ich, dass dies die Hauptursache meiner furchtbaren Komplexe und Minderwertigkeitsgefühle ist. Meinem Bewusstsein hat sich die Überzeugung fest eingeprägt, dass ich als Mensch weniger wertvoll bin als alle anderen. Damals wäre mir niemals eingefallen, dass die Rossmanns nicht meine Eltern sind. Also wer bin ich dann?
Davon, dass ich Polin bin, habe ich mit 10 Jahren erfahren. Es begann das Jahr 1948. Im Haus herrschte eine geheimnisvolle Atmosphäre. Gespräche wurden abgebrochen, wenn ich in die Nähe kam. Ich wurde zur Abreise fertiggemacht. An einem Januartag kam eine Frau in amerikanischer Uniform, um mich abzuholen. Völlig ahnungslos dachte ich anfangs, dass ich nur einen Ausflug machen würde, aber die Hausbewohner verabschiedeten sich von mir mit Tränen in den Augen. Obwohl ich nicht ihre Ursel war, hatten sie mich mit der Zeit lieben gelernt und mir deshalb nicht gesagt, dass ich nicht ihre Tochter war.
Von da an lebte ich mit einer kleinen Gruppe von Kindern in einem kleinen Städtchen im Süden Deutschlands. Wir wurden in schöne Sachen gekleidet, die aus einem Warenlagerhaus der UNRRA (Nothilfe‐ und Wiederaufbauverwaltung der Vereinten Nationen) stammten, täglich wurden uns Südfrüchte, die ich zuvor gar nicht gekannt hatte, sowie Bonbons und Schokolade angeboten. Wir mussten jedoch intensiv Englisch lernen, auch während der Mahlzeiten. Als ich später schon in Polen war, konnte ich nicht begreifen, wofür ich denn damals Englischkenntnisse brauchte, wo ich doch kein Polnisch sprach. Viele Jahre später habe ich von jemandem, der an der Suche nach polnischen Kindern im deutschen Raum beteiligt gewesen war, erfahren, dass man damals vorhatte, mich nach Amerika zu schicken. Nach dem Krieg nahmen Amerikaner den Deutschen die geraubten Kinder weg, um sie dann nach Amerika mitzunehmen. Wäre dasselbe mit mir passiert, so hätte ich wohl nie meine wahre Identität erfahren.
Im Mai desselben Jahres wurde ich zusammen mit zwei anderen Kindern nach Augustdorf gebracht. Wir wurden in einem Lager untergebracht, das nur aus Baracken bestand, in denen Menschen verschiedener Nationalitäten vorübergehend lebten. Jeder wartete darauf, in sein Heimatland transportiert zu werden. Uns wurde mitgeteilt, dass wir erst einmal auf einen Transport nach Polen warten mussten.
Anfang Juni setzten wir uns in einen der Wagen eines sehr langen Zuges des Polnischen Roten Kreuzes. Darin waren Etagenbetten. Ich fürchtete schon, dass die Reise nie enden würde. Oft standen wir tagelang auf freier Strecke mitten zwischen Feldern. Schließlich erreichten wir Katowice. Vom Bahnhof wurden wir in ein Heim des Polnischen Roten Kreuzes gebracht, wo wir darauf warteten, von jemandem abgeholt zu werden. Aber von wem? Es kamen Eltern und holten unter Tränen ihre Kinder ab, aber ich weinte nur und beneidete sie.
Auf mich wartete ein von Nonnen geleitetes Waisenhaus, das ich schon vom Fenster aus sah. Ich wusste schon, dass Barbara Gajzler ein Waisenkind war. Obwohl man mich so nannte, fühlte ich mich immer noch als Bärbel Rossmann aus Lemgo, und ich konnte mich lange nicht mit meinem neuen Namen anfreunden.
Schließlich kam jemand, der sich mein Onkel nannte. Obwohl er mir völlig fremd war, warf ich mich ihm sofort in die Arme. Von meiner Reaktion überrascht und sichtlich gerührt, gab er mir ein Brötchen mit einer großen Bockwurst. Zum ersten Mal in meinem Leben hielt ich zum Essen eine ganze Wurst in meiner Hand und ein Butterbrötchen in der anderen, und bis heute spüre ich noch diesen Geschmack im Mund. Aber das Gespräch mit dem Onkel war schwierig, obwohl er glaubte, in einem deutschen Arbeitslager Deutsch gelernt zu haben. Seine Art zu reden, von der ich kaum etwas verstehen konnte, brachte mich zum Lachen. Wir fuhren nach Gdańsk, nach Hause, wie der Onkel es nannte. Die Stadt in Trümmern, ein altes Haus ohne jeglichen Komfort und ohne Wasser, eine unbekannte Sprache – all das war für mich eine unangenehme Überraschung. Da war auch meine Familie, die ich erst anfing kennenzulernen: eine Tante, zwei kleine Kusinen (im Alter von 3 und 5 Jahren; nach einem Monat kam ein Junge zur Welt) – das war mein neues Zuhause.
Der Krieg war schon längst zu Ende, aber ich wurde von einer Tante zur anderen geschoben. Schließlich kam ich doch in ein Kinderheim. Ständig dachte ich, alles müsse ein Irrtum sein, weil ich mich an nichts und niemanden anpassen konnte. Die Kinder hielten mich für eine Deutsche. In Gdańsk, wo ich zum ersten Mal in eine polnische Schule kam und Polnisch zu lernen begann, nahmen die Kinder mich beim Spielen während der Pausen in einen Reigen mit, wo sie sangen: „Stary Hitler mocno śpi“ („Der alte Hitler schläft fest“). Ich nahm es ihnen nicht übel, weil ich mich auch für eine Deutsche hielt, die in Lemgo ihre Eltern hatte. Die ganze Geschichte war für mich schwer zu verstehen.
In meiner Heimat war ich ein ungewolltes Kind, und an alldem war der Krieg schuld. Ich habe mich unzählige Male gefragt, wo mein Platz auf dieser Erde ist und wer ich eigentlich bin. Solch ein innerer Kampf tobte in mir seit meinem 10. Lebensjahr. Als ich nach 18 Jahren – schon als Erwachsene – wieder in Lemgo war, wollte ich das selbst entscheiden. Jene Momente innerer Zerrissenheit in schlaflosen Nächten sind jetzt schwer zu beschreiben und wohl auch schwer zu verstehen für jemanden, der so etwas nicht selbst erlebt hat. Die schwierigsten Jahre, in denen ich am nötigsten elterlichen Beistand gebraucht hatte, hatte ich schon hinter mir. Meine Heimat lernte ich unter schwierigen Umständen kennen, und ich war gezwungen, über mein Leben selbst zu bestimmen.
Die in Lemgo verlebten Jahre haben sich mir tief ins Gedächtnis geprägt. Heute kehre ich in das schöne Städtchen und zu den dort kennengelernten Menschen als Polin zurück, die weiß, wo ihr Platz und wo ihr Zuhause sind. Als Polin, die an die nächsten Generationen die Geschichte der polnischen Kinder weitergeben möchte, die durch die sie manipulierenden „Übermenschen“ zu Janitscharen des 20. Jahrhunderts geworden sind.
In dem ganzen Unglück hatte ich das Glück, eine Familie zu finden, nach der ich mich oft in den schwersten Augenblicken meines Lebens gesehnt habe. Jedoch habe ich mich für Polen entschieden…
Die Germanisierung von polnischen Kindern, die ihrer Nation entzogen wurden, hat auch in den Fällen, wo sie den Deutschen nicht gänzlich gelungen ist, weil die Kinder doch in ihre Heimat zurückkehrten und Polen blieben, die Psyche der Kinder zerstört, die wie ein gebrochener Ast nie wieder zusammenwachsen und ihr seelisches Gleichgewicht wiedererlangen konnte.
Ich kenne Kinder, denen das Recht darauf genommen wurde, Polen zu sein, die – in Deutschland aufgewachsen und heute Deutsche sind, die aber ihren inneren Frieden nie gefunden haben. Sie sind auf einer ständigen Suche nach ihrer Identität und ihren polnischen Wurzeln.