HENRYK JAKUBOWSKI
Kampf ums Überleben. Erinnerungen aus den Jahren 1939 – 1945
Der Autor wurde am 10. Mai 1925 geboren. Vor dem Kriegsausbruch wohnte er in Zawiercie, wo sein Vater ein Fotoatelier besaß. Nach Ausbruch des Krieges nahm er an Geheimunterricht teil und war in der Untergrundbewegung tätig. 1943 wurde er verhaftet und gefangen gehalten, anfänglich in Gefängnissen in Opole (Oppeln) und Mysłowice (Myslowitz), dann in den Konzentrationslagern Auschwitz‐Birkenau und Mauthausen.

[…] Noch im September erschienen an Anschlagbrettern erste Bekanntmachungen, Verordnungen, Mitteilungen u.ä. von deutschen Militär‐ und Polizeibehörden. Es wurde unter anderem verordnet, unter Androhung der Todesstrafe, an bestimmten Stellen Gewehre, Radios, Fahrzeuge usw. abzugeben. Es gab auch eine Mitteilung, in der ein Termin für den Anfang des Unterrichts in Schulen angesetzt wurde. Wir haben die Schule einige Wochen lang besucht. Eines Tages wurde uns dann aber mitgeteilt, dass der Unterricht für unbestimmte Zeit unterbrochen werde. Es war klar, dass sich diese Pause bis zum Kriegsende ziehen wird. Ich erinnere mich noch daran, wie ich mit einer Gruppe Mitschüler vor der Schule stand, als der Priester Präfekt Całusiński und Herr Professor Woźniak mit folgenden Worten an uns herangetreten sind: „Jungs, es gibt keinen Grund, es hinauszuzögern, der Unterricht muss heimlich fortgesetzt werden, kommt dazu zu uns nach Hause“.

Einige von uns haben dieses Angebot genutzt und schon am nächsten Tag fingen wir mit dem Untergrundunterricht an. Mathe, Polnisch, Fremdsprachen und Geschichte hatten wir mit dem Priester Całusiński, die anderen Fächer mit dem Professor Woźniak, der später Zawiercie verlassen hat. Deswegen fanden dann alle Unterrichtstunden beim Priester statt, manche wurden auch von seinem Bruder Zdzisław geleitet, der gerade eine Oberschule absolviert hatte. Die Stunden wurden in der Privatwohnung des Priesters Całusiński in der Piłsudski Straße abgehalten. Während des Unterrichts beobachtete immer einer der Schüler die Straße und passte auf, dass die Deutschen nicht kamen.

In dieser Zeit arbeitete ich bei meinem Vater im Fotoatelier. Dadurch hatte ich die Möglichkeit, meine deutschen Sprachkenntnisse zu vertiefen, während ich die Deutschen bedient habe. Einen Teil meiner Freizeit verbrachte ich mit Freunden. Wir alle waren in ähnlichem Alter, zwischen 14 und 17 Jahren. Bei schönem Wetter genossen wir die Zeit am Wasser im nahe gelegenen Kądzielów, wo wir an der Mühle von Holenderski badeten und uns sonnten.

Die Kiefernwälder dort waren ein guter Schutz vor Hitze und boten wunderbare Luft. An trüben Tagen haben wir getanzt, hauptsächlich zu Melodien von Schallplatten von Mieczysław Fogg. Wir trafen uns nicht nur aus sozialen oder sportlichen Gründen. Viel Zeit verbrachten wir damit, die Untergrundpresse zu lesen und über die Radionachrichten aus London zu sprechen. Im Fotolabor meines Vaters habe ich heimlich Rundfunk gehört.

Einzelne Zeitungsexemplare unter dem Titel „Płomień“ (Flamme) und später „Niepodległa“ (Die Unabhängige) erhielt ich vom Priester während des Unterrichts. Dort habe ich auch einen Bekannten seines Bruders, Zdzisław Piotrowski, kennengelernt. Nach einigen Treffen begann Piotrowski, mir alle paar Tage ganze Pakete mit Zeitungen zu übergeben, die ich mit der Hilfe meiner Schulfreunde vertrieben habe. Sie gaben diese an ihre Familien und Kollegen weiter.

Nach einer gewissen Zeit hat mir einer meiner Mitschüler mitgeteilt, dass er die Zeitungen nicht mehr annehmen wird, weil er bei der deutschen Gendarmerie als Dolmetscher eingestellt worden sei. Seine Mitteilung, und vielmehr seine Haltung, haben uns ganz und gar überrascht. Wir befürchteten, dass er uns vielleicht verraten wird. Später konnten wir uns davon überzeugen, dass er uns zwar nicht verraten, aber doch alle Kontakte mit uns abgebrochen hatte. Am Ende des Krieges ist er mit den Deutschen aus Zawiercie und aus Polen geflüchtet.

Später hatte sich der Kreis der Empfänger von Zeitungen auf Freunde bei den Pfadfindern erweitert. Als die 107 Deutschen befohlen hatten, alle Radioapparate abzugeben, befolgte mein Vater diese Verordnung nicht ganz ‐ er gab nur einen Radioapparat von den zweien, die er besaß ab. Der zweite Radioapparat war in seinem Betrieb, in der Dunkelkammer angeschlossen. Und genau dort, unter dem Vorwand Laborarbeit auszuüben, hörten mein Vater und ich abwechselnd Auslandsnachrichten. Die wichtigsten schrieben wir auf Zettel und leiteten sie dem Priester und Herrn Piotrowski weiter. Im Laufe der Zeit wurde das Radiohören im Fotogeschäft immer schwieriger und gefährlicher. Der Ort musste gewechselt werden. In der Stadt und Umgebung haben die Deutschen getobt. Es kam zu Massenverhaftungen und Verschleppungen zur Zwangsarbeit nach Deutschland. Spitzel waren überall. […]

Eines Tages, als ich gerade auf dem Rückweg nach Hause war, wurde ich zusammen mit anderen Passanten von der deutschen Polizei umzingelt. Unter Schreien und Schubsen führten sie uns die Alleen an den Eisenbahngleisen neben dem Grabmal des unbekannten Soldaten entlang. Dort waren schon eine Menge Leute, die hierhin gejagt worden waren. An einem der Bäume, mit einer Kirche im Hintergrund, sah ich eine Seilschlinge hängen. Ich begriff sofort, dass die Deutschen eine Hinrichtung planten. Kurze Zeit später kam tatsächlich ein Auto angefahren, aus dem Gestapo‐Offiziere einen schlanken Mann herauszogen. Er hatte eine Arbeitsuniform an und die Hände nach hinten gebunden.

Die zusammengetriebene Menschenmenge bildete ein Viereck und wurde von der Polizei, Gendarmerie und von Gestapo‐Offizieren umstellt, die ihre Maschinengewehre auf uns richteten. Der Verurteilte wurde an den Baum geführt, woraufhin einer der Gestapo‐Offiziere das Urteil vorlas. Es hat in etwa so gelautet: Name, Vorname, Geburtsdatum und weiter – wird wegen Zugehörigkeit zu der geheimen Organisation „Orzeł Biały“ („Weißer Adler“) und damit wegen deutschfeindlicher Betätigung zum Tode verurteilt. Nach der Verlesung des Urteils wurde der Häftling auf einen Hocker gestellt. In diesem Moment hörten wir aus seinem Mund die Worte „Es lebe Polen“. Die Gestapo‐Offiziere schimpften etwas. Einer von ihnen legte dem Verurteilten die Schlinge um den Hals und ein anderer riss den Hocker weg, auf dem das Opfer stand. Auf diese Weise wurde ich zum ersten Mal im Leben zum gezwungenen Zeugen eines politischen Mordes an einem Polen. Auch zum ersten Mal spürte ich richtigen und starken Hass und Rachewillen.

Einige Monate später wurde ich auf gleiche Weise dazu gezwungen, einen anderen Mord mit anzusehen, diesmal in Sosnowiec (Sosnowitz). Ich fuhr dorthin, um meine Familie zu besuchen. Vom Bahnhof wurden wir auf einen Platz bei der Synagoge zusammengetrieben. Die Hinrichtung fand auf dieselbe Weise wie in Zawiercie statt. Ich war damals etwa 15 Jahre alt. Der Anblick der beiden Hinrichtungen war ein prägendes Erlebnis und beeinflusste meine sich noch entwickelnde Psyche. Ich drehte den Kopf weg und schloss die Augen, weil ich nicht zusehen konnte, wie ein Mensch ermordet wird. Obwohl ich noch jung war, spürte ich den Drang zu handeln, obwohl ich mir des Preises sehr gut bewusst war.

Eines Tages haben die Deutschen in der Stadt Plakate aufgehängt, auf denen eine zerstörte Stadt und darüber fliegende englische Flugzeuge abgebildet waren. Unter dem Plakat stand geschrieben: „England, das ist dein Werk“. Solche ein Plakat hing auch an der Tafel gegenüber den Fenstern des Betriebes meines Vaters. Zusammen mit Marian, einem Mitarbeiter meines Vaters, beschlossen wir, diese Aufschrift zu ändern, indem wir auf das Wort „England“ das Wort „Hitler“ klebten. An diesem Tag blieben wir bis zum späten Abend im Betrieb. Marian hat mit großen Buchstaben und Tusche auf einem Heftblatt „Hitler“ geschrieben. Auf der Rückseite bestrich ich das Blatt mit Klebstoff, danach nutzte ich einen Moment, in dem die Straße ganz leer war, lief zu dem Plakat und setzte die vereinbarte Aufgabe in die Tat um. Früh am nächsten Morgen beobachteten wir durch ein Fenster, wie sich die Passanten mit einem Lächeln unser Plakat angeschauten. Erst um 10 Uhr kam eine Gruppe Gestapo‐Offiziere, sie fotografierten das Plakat und rissen es dann ab. Den ganzen Tag lang und auch einige Tage danach war die Stadt in Alarmbereitschaft. Es kam aber zu keinen Repressionen.

[…]Im Laufe der Zeit wurde das Leben unter der Besatzung immer schwieriger. Die Lebensmittelrationen, die man für seine Marken erhielt, wurden immer kleiner. Es kam immer öfter zu Straßenrazzien und ganze Menschenmassen wurden zu Arbeitslagern abtransportiert. Wegen des Mangels an Lebensmitteln fuhr ich öfter mit dem Rad zu nahe gelegenen Dörfern, um etwas zum Essen zu kaufen. Manchmal ist es mir gelungen, ein bisschen Milch oder Butter mitzubringen. […]