IRENA ROWIŃSKA
1930er-Generation
Die Autorin wurde in Warschau geboren und wohnte dort auch. Zu Kriegsbeginn war sie acht Jahre alt.

[…] Es kam der strenge Winter 1940. Der Frost erreichte öfters minus 30 Grad, zu Hause war es sehr kalt, es gab kein Heizmaterial (in vielen Wohnungen gab es keinen Herd), es fehlte an Holz, Kohle und Koks. Rohre platzten auf, aus den Wasserhähnen lief kein Wasser, Toiletten waren außer Betrieb.

Es fehlte an Essen, das man nur auf dem „Schwarzmarkt“ kaufen konnte, doch wir konnten uns solche Einkäufe nicht leisten, die Preise waren zu hoch. Zum Frühstück gab es Schwarzbrot, meistens „leer“ und Kaffee ohne Zucker, zum Mittagessen Suppe ohne Gemüseeinlage, die es einfach nicht gab, zum Abendbrot wieder Kaffee und Brot. Jede Mahlzeit fing mit Weinen an, denn ich wollte diese Abscheulichkeiten nicht essen und meistens blieb ich hungrig. Ich bekam leider nichts Besseres, deshalb war mir nicht nur kalt, sondern ich war dazu noch hungrig und es war irgendwie schrecklich. Jeden Tag fuhren Leichenwagen mit Verstorbenen die Puławska Straße entlang, zum Friedhof. Es gab nicht viele Trauernde, dagegen immer mehr Verstorbene. Nur ab und zu erschienen hinter einem Leichenwagen Klageweiber – ein Zeichen dafür, dass der Verstorbene ein Jude gewesen war.

Im Winter 1940, als der Frost die Temperatur minus 35 Grad erreichte, wurde der Unterricht in den Schulen unterbrochen. Lebensmittelvorräte wurden aufgebraucht, es fehlte sogar an Brot und Kartoffeln. Die Nachrichten, die aus der Stadt kamen, wurden immer erschreckender. Aufgrund von Unterernährung und Hunger starben die ärmsten Einwohner Warschaus massenweise an Tuberkulose.

In „unserem Haus“ war es auch traurig, obwohl sich die Bewohner bemühten, einander zu helfen und miteinander zu teilen, was man hatte. Da wir einen Kachelherd und noch ein bisschen Koks hatten, hat man sich bei uns getroffen. Um Feuer zu machen, nutzten wir alte, hölzerne Gegenstände – Stühle, Schränke, Hocker usw. Abends wurden lange Gespräche geführt, man tauschte Neuigkeiten aus, es wurde über ein baldiges Kriegsende spekuliert.

In dieser Zeit haben die Besatzer verschiedene Arbeitswerkstätten in Betrieb genommen, in denen sich die Herstellung hauptsächlich auf Bedürfnisse der Armee konzentrierte. Es gelang meinem Vater, eine Arbeitsstelle unter deutscher Geschäftsführung bei der Produktion von Woll‐ und Bettdecken in Warschau Powązki zu kriegen. Die Arbeit war schlecht bezahlt und weit weg von Zuhause, man kriegte aber einen Ausweis, der teilweise vor Verhaftung schützte.

Endlich kam der Frühling 1940. Unsere Freunde jüdischer Abstammung bekamen Davidsterne, liefen am Rande des Bürgersteigs und sprachen immer öfter über die Verlegung ins Ghetto.

Weitere Bewohner des Hauses in der Puławska Straße verließen ihre bisherigen Wohnungen, dabei ließen sie oft einen Teil ihres Hab und Guts zurück, weil es auf dem Fuhrwerk keinen Platz mehr dafür gab. Sie zogen ins „Unbekannte“. Wir nahmen mit großem Bedauern sehr herzlich Abschied von ihnen und wünschten ihnen alles Gute. Jahrelang lebten wir zusammen, hatten einander sehr gern und konnten nicht begreifen, warum ihnen das passierte und verstanden nicht, was diese Leute falsch gemacht haben sollen. Niemand überlebte, wir haben nach dem Krieg keinen von ihnen je wieder getroffen, alle unsere jüdischen Bekannten sind im Ghetto ums Leben gekommen. Traurig. Verlassene Wohnungen wurden von anderen Bewohnern besetzt, die meistens aus anderen Häusern ausgesiedelt wurden oder von deutscher Herkunft waren, weswegen man ihnen schwer Vertrauen schenken konnte.

Immer öfter erschienen in dem Gebäude neue Mieter in deutschen Uniformen. Samt ihren Familien bezogen sie die teuersten Mehrzimmerwohnungen. Es gab auch „zivile“ Angestellte deutscher Ämter, meistens von der Gestapo. Die alten Bewohner wussten, wer sie waren und waren auf der Hut vor ihnen. Es kam aber zu Situationen, die schwer vorauszusehen waren. Eines Abends saßen wir in unserer Wohnung am Herdfeuer, die Herdringe lagen offen und wir lasen die Untergrundpresse. Plötzlich hörten wir, dass jemand die Tür mit einem Schlüssel aufmachte. Wir schafften es gerade noch, die Zeitschrift ins Feuer zu werfen. In unsere Wohnung trat eine Gestapo‐Mitarbeiterin ein, die im selben Flur wohnte und teilte uns lächelnd mit, dass sie die Wohnungstür geöffnet hatte, weil ihr Schlüssel zu unserer Tür passt. Niemand wusste, wie viele Male sie früher schon unsere Sachen durchwühlt hatte und es war sehr merkwürdig, dass sie keine verbotenen Schriften gefunden hatte.[…] Währenddessen wurde das Leben für alle immer schwieriger. Eigentlich fehlte es an allem.

Die begehrtesten Waren (von Lebensmitteln über Kleidung bis zu Gold und Brillanten) konnte man auf dem „Schwarzmarkt“ kaufen. Meine Eltern hatten aber nicht genug Geld, um sich solche Ausgaben leisten zu können und so litten wir Not.

Mein Vater fuhr zwar mehrmals aufs Land, um dort Einkäufe zu machen, aber er hatte kein Glück und verlor alle Einkäufe bei Durchsuchungen im Zug oder am Bahnhof, und damit auch das ausgegebene Geld. Unser Speiseplan wurde jedoch um Zwiebel und Rapsöl reicher. Das war eine sehr vorzügliche Speise – klein geschnittene Zwiebel, mit Öl begossen und das schwarze, unausgebackene Brot, das man für seine Nahrungsmarken bekam. Dazu trank man etwas, was Tee genannt wurde, aber eigentlich wusste niemand, was das war, mit Saccharin gesüßt. Das war abscheulich und ich weinte immer dabei. Der Speiseplan wurde abwechslungsreicher, nachdem „Marken für alles“ eingeführt wurden. Da tauchte auf einmal eine abscheuliche Marmelade auf, die uns in festgelegten Mengen in Gefäße gefüllt wurde. Nach einigen Tagen war es mehr Marmelade als ursprünglich, sie gor fortwährend und ununterbrochen hörte man sie im Topf gluckern. Noch heute erinnere ich mich daran. Ein anderer „Leckerbissen“ war der künstliche Honig, der genauso scheußlich wie die Marmelade war. Dazu gehörte noch Schwarzbrot, das hervorragend Lehm nachahmte, stinkende Margarine, eine „Seife“, die nie schäumte, und manchmal andere zusätzliche „Delikatessen“ je nach Verteiler der Besatzungsbehörden.

In der Willowa‐Straße, in einer Kellerwohnung, neben dem Feldgendarmerie‐Amt, das ständig von zwei in Grätsche stehenden Soldaten bewacht wurde, befand sich ein Geschäft. Das dreistöckige Gebäude wurde zusätzlich durch Sandsäcke geschützte, die bis auf Höhe des ersten Stocks geschichtet waren. Von hier fuhren Autos zu Razzien los. Die Autos waren voll mit Gendarmen, die auf Bänken auf beiden Seiten des Wagens saßen. Oft waren hier Schüsse im Hof zu hören. Dem Geschäft gegenüber, in der Willowa‐Straße 8/10, stand ein mehrstöckiges Gebäude, das von der Gestapo für Privatwohnungen besetzt und auch sorgfältig bewacht wurde. Überall wimmelte es von grünen und schwarzen Uniformen, die bei den Polen riesige Angst erzeugten. Wer nicht unbedingt musste, betrat die kleine Willowa‐Straße nicht, die fast vollständig von Besatzern mit hohem Rang besetzt war. Deswegen traf man im Geschäft vor allem Kinder an, die für Marken eingekauft haben. Meine Mutter war nie in diesem Geschäft, erschrocken schaute sie nicht mal in diese Richtung. Sogar nach dem Krieg verspürten wir Angst und Widerwillen, in die Willowa‐Straße zu gehen. Eine ähnliche Rolle spielte damals die zur Willowa‐Straße parallele, kurze Dworkowa‐ Straße. Dort befand sich nämlich das Gendarmerie‐Amt, alle Häuser wurden komplett von Deutschen besetzt. Auch die Puławska‐Straße war auf der Strecke von der Rakowiecka‐Straße bis zur Madalinskiego‐Straße das ausschließliche Eigentum der uniformierten deutschen Würdenträger, denn die Häuser waren hier modern und kurz vor dem Krieg gebaut.

Ich erinnere mich noch daran, dass eines Tages ein Offizier vom hohen Rang aus dem „Wedel“‐Haus in der Madalinskiego‐Straße gekommen ist. Er geriet unter die heranfahrende Straßenbahn und wurde tödlich verletzt. Der Fahrer wurde aus der Straßenbahn gezerrt. Der Unglücksselige nahm schon Abschied von seinem Leben, als die durchgeführte Revision nachwies, dass der Deutsche Selbstmord begangen hatte. Auf einem Zettel, der in seiner Uniform gefunden wurde, stand geschrieben, dass seine ganze Familie bei einem Bombenanschlag in Berlin ums Leben gekommen war. Das hat den Straßenbahnfahrer vor dem Tode bewahrt. Dieses Ereignis habe ich vom Balkon aus gesehen, die Details erfuhren wir aus der Untergrundpresse.

Es wurde immer grausamer und trauriger. Die frühe Polizeistunde machte es unmöglich das Haus zu verlassen, also las ich eine Menge verschiedener Bücher, die manchmal für ein zwölfjähriges Kind zu schwierig waren. Damals wurden Kinder jedoch früh erwachsen und haben viel verstanden. Zufällig sah ich etwas, was sich am frühen Nachmittag in unserem Haus ereignete. Gegen 14.00 Uhr kehrte ein Deutscher von der Arbeit heim, der hier wohnte und der angeblich bei der Gestapo in der Szucha‐Allee arbeitete. Es folgten ihm zwei Jungs, die ein bisschen älter als ich waren. Ich habe sie früher mehrmals gesehen, wie sie durch die Höfe zu dem sogenannten letzten Treppenhaus liefen. An diesem Tag verließen sie den Hof dicht hintereinander mit ziemlich schnellen Schritten. Später stellte sich heraus, dass im Aufzug ein toter Gestapo‐Offizier lag, der mit einem Pfadfindermesser ermordet wurde. Das, was ich gesehen hatte, erzählte ich nur meinen Eltern. Angeblich ist es den Jungen gelungen zu fliehen [...]