STANISŁAW SOLAREWICZ
Helft uns die Erinnerung zu bewahren
Der Autor, Bürger von Lwów (Lemberg), wurde bei einer Razzia gefangen genommen und geriet ins Lager in der Janowska‐Straße. Dieses Lager diente auch als Arbeitslager für Juden. Der siebzehnjährige Junge war Zeuge ihrer Vernichtung.

Lemberg 1942. Es ist ein Jahr vergangen, seitdem die deutschen Besatzer damit begonnen haben, die Stadt zu verwalten. […] Sie führen zahlreiche Razzien durch, sie legen den Bewohnern Kontributionen auf, sie errichten das Zwangsarbeitslager am Ende der Janowska‐Straße, unweit von Sandhügeln. Dieser Ort hatte eine doppelte Bestimmung. Zum einen wurde hier die kostenlose Arbeitskraft der Zwangsarbeiter ausgenutzt, zum anderen war dies auch ein Vernichtungsort für Juden, Zigeuner und andere Nationen. Dieses Lager hieß „Zwangsarbeitslager Lemberg‐Janowska”.

Ich kam ins Lager als ich 16 Jahre alt war und war dort der jüngste Häftling. Nachdem wir ins Lager gebracht wurden, standen wir bis in die Abendstunden vor dem Kommandantengebäude. Zur gleichen Zeit fand die Registrierung der Häftlinge, das Schneiden der Haare an allen Stellen des Körpers und das Malen von bunten Streifen auf dem Rücken längs der Wirbelsäule statt, damit die SS‐Männer die Nationalität der Häftlinge unterscheiden konnten. Die Häftlinge im Lager trugen die Kleidung, die sie während der Razzien angehabt hatten und auf diese Kleidung wurden die Streifen gemalt. Den Polen mit roter, den Ukrainern mit blauer und den Juden mit weißer Farbe.[…]

Zu dieser Zeit breitete sich im Lager Typhus aus. Mit dieser Krankheit waren Häftlinge, hauptsächlich Juden, infiziert, die schon seit längerem im Lager waren. Die Kranken wurden aus dem Gebäude hinausgetragen und man sagte ihnen, dass sie ins Krankenhaus gebracht werden, doch man legte sie unweit vom Appellplatz unter freiem Himmel auf einen von Stacheldraht umgebenen Platz. Dort wurden sie von einem jungen rothaarigen SS‐Mann getötet. Die Prozedur des Tötens lief so ab, dass er zwischen den Kranken umherging, alle paar Augenblicke stehen blieb und auf seinen Fingern pfiff. Wenn ein Kranker seinen Kopf nicht hob, näherte sich der SS‐Mann dem Kranken und tötete ihn mit einem Gewehrschuss. Diese Praxis wiederholte sich täglich um die gleiche Zeit.[…]

Mit neu angekommenen Häftlingen wurden Arbeitskommandos gebildet. Auf dem Appellplatz standen separat Arier und Juden. Nach der Überprüfung der Anzahl der Häftlinge und der Meldung an den SS‐Offizier wurden wir zur Arbeit abtransportiert, abends schickte man uns dann ins Lagergebäude zurück.

Das Lager, das als Zwangsarbeitslager bezeichnet wurde, war nach dem Vorbild der bestehenden Konzentrationslager errichtet worden. Eigentlich war es ein Vernichtungslager, vor allem für Juden, Zigeuner und teilweise auch für die polnische Bevölkerung. Es war von einem hohen Zaun aus Stacheldraht umgeben. Die Häftlinge durften sich dem Zaun nicht nähern. Übertrat jemand dieses Verbot, dann wurde er von Wachtürmen, die dicht um das Lager errichtet worden waren, beschossen. Diese Wachtürme waren von Ukrainern besetzt. Das Lager wurde grundsätzlich von jungen SS‐Männern bewacht, die von der Front zur Erholung geschickt wurden. Einige von ihnen sprachen tschechisch, sodass man vermuten konnte, dass es sich um Sudetendeutsche handelte.

Der Lagerkommandant war ein hochrangiger SS‐Offizier namens Willhaus. Sein Stellvertreter war ein SS‐Offizier namens Rokita. Sie unterschieden sich darin, dass Willhaus die Häftlinge mit einer Reiterpeitsche schlug und sie so folterte, Rokita dagegen tötete sie auf diese Weise. Im Lager galt die Pflicht, sich schnell zu bewegen und die Mütze, wenn der Häftling denn eine hatte, vor jedem SS‐Mann abzunehmen. Wer das vergessen hatte oder aus gesundheitlichen Gründen nicht befolgen konnte, wurde verprügelt.

Rokita trug im Lager immer lederne Handschuhe, am rechten Handgelenk hingen eine Reitpeitsche und eine Pistole. Er war ein Mann von ca. 50 Jahren, von mittlerer Größe, ziemlich beleibt und kahlköpfig. In Lemberg wohnte er allein, während seine Frau in Krakau blieb. Wenn sie in Lemberg erschien, nahm Rokitas Sadismus ab.

Das dann mildere Verhalten des SS‐Mannes nutzend gingen vier österreichische jüdische Häftlinge zu seiner Frau mit der Bitte, zu versuchen ihren Mann zu beeinflussen, damit er im Lager solche mörderischen Methoden nicht mehr anwendet. Diese Mission endete für alle vier tragisch. Am nächsten Tag befahl Rokita während des Morgenappells den Häftlingen, die es gewagt hatten, zu seiner Frau zu gehen, aus der Reihe herauszutreten. Er begann mit seiner Pistole zu schießen und sie liefen hin und her über den Appellplatz, bis sie schließlich zu Boden fielen. An diesem Tag fuhren wir nicht zur Arbeit, die Traktoren fuhren ohne uns ab und wir standen da, bis das Geröchel des letzten Sterbenden nicht mehr zu hören war, was gegen Mittag geschah. Er tötete sie nicht sofort, sondern ließ sie langsam sterben.

Rokita wurde im Lager der „Eichmann Galiziens” genannt. Das Lager hatte zwei Funktionen, es wurden hier kostenlose Arbeitskräfte gesammelt und es war zugleich ein Ort der Vernichtung. Es wurden sowohl Einzelpersonen ermordet als auch Massenmorde verübt – an Juden, die aus dem Ghetto Lemberg hergebracht wurden. Während meines Aufenthalts im Lager kam es zweimal zu Massentötungen von Juden. Die zweite Aktion beobachtete ich von einem Versteck im Kommandanturgebäude. Ich durfte es weder verlassen, noch durch das Fenster schauen. Diese Entscheidung traf Rokita. Der Platz, wo die Juden zusammengepfercht wurden, befand sich etwa 100 Meter vom Kommandanturgebäude entfernt. Er war in einige separate Teile geteilt und jeder von ihnen war von Stacheldrahtzaun umgeben. Der erste Menschentransport wurde noch am Tage, die nächsten schon bei Dämmerung und in der Nacht gebracht. Im ersten waren junge jüdische Mädchen. Sie wurden mit vier LKWs dorthin transportiert. Junge SS‐Männer nahmen einige von ihnen mit zu sich in ihre Quartiere, die anderen Mädchen warteten bis zur Dämmerung. Über das Schicksal dieser Mädchen weiß außer diesen SS‐Männern niemand etwas. Die Plätze wurden in der Dämmerung hell von Lampen und Scheinwerfern erleuchtet. Das ermöglichte es mir zu sehen, was auf den einzelnen Plätzen geschah und auf welche Weise die Deutschen vorgingen. Auf den ersten Platz kamen erstmal alle, die gebracht worden waren. Hier ließen sie ihre Oberbekleidung, Gepäck und die mitgebrachten Gegenstände zurück. Durch Schreien und Schlagen mit Reitpeitschen wurden die Unglückseligen dann von SS‐Männern dazu gezwungen, durch zwei Tore bis zum nächsten Platz zu gehen. Hier mussten sie sich nackt ausziehen und wurden ohne Rücksicht auf Alter oder Geschlecht auf den dritten Platz geführt, diesmal aber nur durch ein Tor. In diesem Teil standen Körbe in die die Juden ihre Ehe‐, Finger‐ und Ohrringe, Uhren und dergleichen, die sie bei sich hatten, hineinwerfen mussten. Von hier aus gingen sie durch ein schmales Tor und nach einer genauen Kontrolle der Hände, der Ohren und der Mundhöhle, die von SS‐Männern durchgeführt wurde, gingen sie zum nächsten Platz. Dort wurden die nackten Menschen aufgeteilt und Kolonnen in Richtung Sandhügel gebildet. An der Spitze gingen Kinder, dann Frauen und am Ende die Männer. Die Vernichtungsaktion wurde um vier Uhr morgens abgeschlossen. Es sind dabei einige Hundert Menschen ermordet worden.

Bei Tagesanbruch erschienen auf den Plätzen, durch die die Juden gegangen waren, die SS‐Männer. Sie warfen die zurückgelassenen Sachen in Körbe. Auf dem anderen Platz, wo die Körbe für den Schmuck standen, suchten die SSMänner den Boden nach Gold ab.

[…] So sah aus meiner Sicht der „Hof” von Willhaus und Rokita aus.