Dieser Text ist die Niederschrift von Gesprächen des Autors Piotr Wyrzykowski mit seinem Großvater Tomasz Miedziński. Tomasz Miedziński wurde 1928 in Horodenka, Woiwodschaft Stanisławów, auf dem Gebiet der heutigen Ukraine, in einer jüdischen Familie geboren. Während der deutschen Okkupation war er wegen seiner Nationalität verschiedenen Arten von Unterdrückung ausgesetzt. Er war im Getto, im Lager für die Juden in Lwów (Lemberg), er musste im Verborgenen leben. Im Holocaust verlor er alle seine nächsten Angehörigen.
Horodenka, eine Stadt in der Woiwodschaft Stanisławów, hatte damals ca. 12 000 Einwohner und war mit ca. 2 000 Polen, ca. 5 000 Ukrainer und ca. 4 5 00 Juden eine Dreivölkerstadt. Es wohnten dort auch ca. 300 Menschen anderer Nationalitäten – Russen, Rumänen, Armenier, Slowaken und Roma. In diesem Schmelztiegel der Nationalitäten lebten wir im Allgemeinen friedlich und ruhig bis zum Jahr 1939, als die Sowjetunion diese Gebiete besetzte. Bis die Russen kamen, besuchte ich eine polnische und dann eine ukrainische Schule. Zu Hause sprachen wir Jiddisch, ich war also beinahe von Geburt an dreisprachig. Mein Vater Józef, war Tischler, meine Mutter Klara war Schneiderin. Ich hatte einen älteren Bruder, eine ältere Schwester und zwei jüngere Brüder. In Horodenka lebten auch die Großeltern Kupferman und ca. 50 weitere nähere Familienangehörige.
Nach dem Überfall Nazi‐Deutschlands auf die Sowjetunion wurde die Stadt 1941 von den Ungarn als Verbündete der Deutschen und Ende August desselben Jahres von den Deutschen selbst besetzt. Sofort fing man an, Juden zu verfolgen, Vermögen zu konfiszieren, von Ärzten Arbeitswerkzeuge zu beschlagnahmen; Schulen wurden geschlossen, es wurde ein mit Stacheldraht umzäuntes jüdisches Stadtviertel gebildet. Unser Haus befand sich in diesem Stadtviertel, es wurden bei uns einige Familien einquartiert. Männer ab dem Alter von 14 Jahren und Frauen ab 15 Jahren wurden gezwungen, ein Band mit dem Judenstern zu tragen. Das Stadtviertel verlassen durften nur diejenigen, die auf der arischen Seite arbeiteten. Es gab immer mehr Schwierigkeiten mit der Verpflegung. Anfangs konnten wir damit noch zurechtkommen. Wir hatten etwas Mehl, Kartoffeln und Sonnenblumenöl vorrätig. Der Vater arbeitete als Tischler in Militärwerken und durfte jeden Tag einen Topf Suppe nach Hause mitnehmen. Verhaftet wurde hauptsächlich die jüdische intellektuelle Elite sowie ehemalige sowjetische Beamte, manche wurden nach Kołomyja (Kolomea) abtransportiert und dort getötet. So lief es bis Dezember 1941.
Zwischen August und Dezember fanden, wie ich schon sagte, grauenhafte Ereignisse statt. Ukrainische Nationalisten beherrschten die Verwaltungs‐ und polizeilichen Behörden und organisierten Judenpogrome in Städtchen und Dörfern um Horodenka, z.B. in Niezwiska, Łuki, Woronowo, Podwerbce, Żywaczów; dort lebende Juden wurden mit Stacheldraht gefesselt und im Fluss Dnister ertränkt. Man ermordete Leute in Kosów, Kuty, Obertyn, Jaremcze, Śniatyń. Andere wurden gezwungen, in das Getto in Horodenka oder Kołomyja zu ziehen.
Am 3. Dezember 1941 wurde von den Deutschen der Befehl erlassen, dass sich am nächsten Tag um 7 Uhr alle Juden zwecks einer Typhus‐Impfung bereitstellen sollen. Auf dem Platz vor der Synagoge versammelten sich über 2700 Personen, ganze Familien. Der Platz wurde von Deutschen und ukrainischen Polizisten umstellt, die alle Leute in die Synagoge getrieben haben. Dort wurden sie unter schrecklichen Umständen bis zum nächsten Morgen festgehalten und dann mit LKWs zum Dorf Siemakowce abtransportiert, wo man sie ermordete. Darunter befand sich unsere ganze große Familie. Uns – meinen Vater, meinen älteren Bruder und mich, versteckte meine Mutter im Dachboden, unter Brettern. Sie meinte, dass man ihr und meinen zwei jüngeren Brüdern doch nichts antun wird.
Ich kenne die Einzelheiten von Dziunek. Nach der Ankunft am Richtplatz wurde allen befohlen, sich bis auf die Unterwäsche auszuziehen und ca. 50 – 60 Meter über den Schnee bis zu ausgehobenen Gräben zu laufen. Als meine Mutter sah, dass jeder mit einem Schuss in den Hinterkopf getötet wird, stieß sie beide Jungen in den Graben hinab und sprang selbst in den Graben, um sie mit ihrem Körper zuzudecken. Es ist erwähnenswert, dass Dziunek damals elf Jahre alt und Mordechaj, den wir Martek nannten, neun Jahre alt war. Meine Mutter und Martek wurden erschossen, Dziunek dagegen nur verletzt. Er lag den ganzen Tag lang unter den Leichen, am Abend, als die Mörder weg waren, kletterte er aus dem Graben heraus, zog irgendwelche Kleider und Schuhe an und ging in Richtung des Dorfes, wo er Rettung suchte. Er verkroch sich in einer Heumiete, wo er am Morgen von einem Bauern entdeckt wurde. Dieser gute Mensch nahm ihn mit nach Hause, gab ihm warme Milch, etwas zu essen und verbarg ihn drei Tage lang. Erst nach dieser Zeit war Dziunek imstande zu sagen, wer er ist und dass in dem 7 ‐ 8 Kilometer entfernten Dorf Kolanki, unser Verwandter, Bauer Hersz Gutman wohnt. Der Bauer fuhr ihn zu dem Verwandten, der ihn nach zehn Tagen mit einem Pferdewagen nach Horodenka brachte. Es war ein richtiges Wunder. Das Kind stand unter Schock, war durch Schüsse auf dem linken Ohr taub geworden, sprach einsilbig und erst nach mehreren Tagen konnten wir aus ihm einen Bericht über die grausamen Ereignisse herausbekommen, die man damals umgangssprachlich „Aktion” nannte. Dziunek wohnte mit uns im Getto. Neben ihm konnten sich sechs weitere Personen vor dem Massaker retten. Nach wenigen Tagen kamen Gestapo‐Männer aus Kołomyja nach Horodenka und verhafteten fünf Personen, die sie danach erschossen, damit keine Zeugen des Massakers in Siemakowce am Leben blieben. Dziunek haben wir versteckt. Es wurde noch eine Person gerettet, die Ehefrau des ehemaligen rituellen Beschneiders.
Mein älterer Bruder, Mojsze‐Mendeł (16 Jahre alt) schloss sich einer Gruppe junger Männer an, welche nach Rumänien fliehen wollten, und zwar über die alte polnisch‐rumänische Grenze, die von Horodenka sechs Kilometer entfernt war. Sie wollten nach Czerniowce, wo keine Judenverfolgung wie im Distrikt Galizien stattfand. Sie wurden an der Grenze festgenommen und ins Getto in Kołomyja abtransportiert. Dort fanden wir ihn Ende August. Um die Monatswende Juli/August 1942 wurde mein Vater mit einer Gruppe Handwerker auch ins Getto in Kołomyja geschickt. Ich versteckte mich mit Dziunek in einem speziell errichteten unterirdischen Bunker. Mitte August wurde nach einer weiteren „Aktion“, in der 450‐500 Menschen ermordet wurden, verkündet, dass Horodenka nun „judenfreies“ Gebiet ist. Innerhalb von 48 Stunden sollten alle Überlebenden ein Stück Gepäck nehmen, Horodenka verlassen und sich im Getto in Kołomyja vorstellen. Die Überlebenden sollten an einem Ort versammelt werden, um die Durchführung der „Endlösung” zu erleichtern. Wir kamen um den 20. August 1942 ins Getto in Kołomyja. Wir trafen dort meinen Vater und meinen älteren Bruder. Wir wohnten in einem Holzbau bei einem Verwandten meiner Mutter ‐ Ziama Gutman, einem von den Deutschen geschätzten Juwelier. Mein Vater arbeitete bei der Stadtkommandantur und rettete uns vor dem Hungertod, weil er von den Tischen in der Kantine Reste mitnehmen durfte, die er dann ins Getto brachte. Mein Bruder machte sich wieder auf den Weg zur rumänischen Grenze und verschwand danach spurlos. Man sagte, dass an der Grenze eine Gruppe von Flüchtlingen aus dem Getto in Kołomyja erschossen wurde. An einem Sonntagmorgen Anfang September 1942 begann in Kołomyja eine grausame Vernichtungsaktion, die auf der gesamten Strecke von Kołomyja bis Lwów parallel ablief. Auf dem riesigen Platz des Vorkriegsunternehmen für Holzverarbeitung „PAGED" wurden zwischen 5000 und 6000 Menschen versammelt. Manche Fachleute, darunter unser Vater, wurden von den Deutschen herausgezogen, insgesamt vielleicht 80‐90 Personen. Der Rest wurde unter Bewachung zum Bahnhof getrieben, wo Viehwaggons bereit standen, in die wir wie „Gegenstände“ geladen wurden. Es spielten sich dort danteske Szenen ab, die Waggons wurden mit uns vollgestopft. Dziunek und ich wurden getrennt und wir verloren einander aus den Augen. Man kann mit Worten kaum beschreiben, was sich in den Waggons abspielte. Die Schreie der Kinder, das Jammern der Gefolterten und Verletzten, der Gestank – man konnte seine Notdurft nur unter sich verrichten – gegenseitiges Zertrampeln, auf Leichen Treten, Bilder wie in der Hölle oder noch schlimmer. Als der Zug beschleunigte, wurde das Gitter aufgebrochen und Leute fingen an, hinaus zu springen, wobei einige unter den Rädern des Zuges umkamen oder von Wachmännern erschossen wurden, die sich in jedem zweiten oder dritten Waggon befanden. Kurz vor Stanisławów konnte ich auf den Armen der Anderen zum Fenster gelangen, durch das ich gewaltsam geschoben wurde und fiel in die Tiefe. Doch wir waren zu nahe am Bahnhof, sodass ich keine Chance hatte, zu fliehen. Ich wurde wieder gefangen genommen, doch in diesem Unglück hatte ich auch ein bisschen Glück. Und zwar passten die zusammengetriebenen Menschen nicht mehr in die Waggons von Stanisławów, so wurden die Waggons aus Kołomyja geöffnet und alle, auch ich, wurden dort hinein geschoben. Als ich mit Bahnlichtern im Hintergrund in der Waggontür stand, hörte ich meinen Namen. Dziunek hatte ihn gesagt ‐ und das war eben mein Glück im Unglück. Unsere Freude war riesengroß. Wir beschlossen, uns gemeinsam zu retten. Der Zug fuhr an den Stationen Halicz, Bukaczowce, Chodorów, Bóbrka vorbei. An jeder Station wurden neue Waggons, voll mit Menschen, angeschlossen, denn an diesem Tag fanden auf der gesamten Strecke bis nach Lwów „Aktionen“ statt. Wie ich später erfahren habe, waren die Gaskammer in Bełżec der Zielort dieser Transporte. Nur wenige junge Männer wurden in das Konzentrationslager in Lwów („Janowska”) verwiesen.
Wir begannen, langsam zur Tür zu rücken, wo diesmal ein Brett aufgebrochen wurde, so dass zwei Personen auf einmal in die Öffnung passten. Wir wurden beide nach draußen geschoben und fielen nach unten. Jeder von uns ging dann zum anderen, bis wir uns trafen, es war dunkle Nacht. Dziunek war unversehrt, ohne jede Verletzung. Ich war am Kopf verletzt und hatte aufgeschlagene Beine. Wir wuschen uns in einem Bach und gingen Richtung Wald mit der Absicht, nach Lwów zu gelangen. Unsere Wanderung an der Grenze zwischen Leben und Tod dauerte zwei Tage und zwei Nächte. Wir ernährten uns von Rüben und rohen Kartoffeln, die wir auf den Feldern finden konnten, sowie von Brombeeren, die wir am Tag im Wald sammelten. Schließlich kamen wir durchgefroren und hungrig in Lwów an. Wir gelangten ins Getto und hier fing eine weitere Etappe meines Lebens an – meine Zeit in Lwów.
In Lwów, wohin alle überlebenden Juden getrieben wurden, arbeitete man an der Absperrung des Gettos, ein hoher Zaun als Sichtschutz war fast fertig. Das bedeutete, dass bald weitere Vernichtungsaktionen stattfinden würden. In dem Getto gab es keinen freien Platz, wo man eine Unterkunft hätte finden können. Ich erfuhr, dass in der Zamarstynowska Straße ein gescheiterter Lehrer aus Kołomyja ‐ Nachman Nusbaum, eine Gruppe von Jungen in unserem Alter betreute, indem er ihnen eine Beschäftigung und Verpflegung organisierte. Wir suchten ihn auf, er nahm uns auf und teilte uns eine Ecke im Keller des Gebäudes zu. Von Nachman, der sich für die Theorien von Korczak und Makarenko begeisterte, erfuhren wir seit langem zum ersten Mal wieder richtige menschliche Gefühle. Erst als ich älter war, konnte ich seine Haltung – Aufopferung und Güte richtig schätzen. Nachman verteilte auf gerechte Weise Erwerbsarbeiten an die älteren Jungen, die gegen Bezahlung die Bewohner von Lwów bei Zwangsarbeitern vertraten: ich arbeitete beispielsweise einige Male je zwölf Stunden lang in einer Gerberei an der Zamarstynowska Straße, beim Aufräumen des Bahnhofs, beim Kohle‐Ausladen u.a. Der Verdienst in Höhe von ca. zehn Zloty pro Tag ging in die gemeinsame Kasse und wurde in der Regel für Nahrung ausgegeben. Nachman organisierte uns jeden Tag einen Eimer Suppe aus der sog. „Volksküche”, die Suppe verteilte er gerecht. Die jüngeren Kinder blieben vor dem Bahndamm stehen und wenn ein Zug vorbeifuhr, wurden manchmal Kartoffeln, Karotten, Kohlköpfe oder Brotstücke herausgeworfen. In der Regel wurden sie jedoch beleidigt und beschimpft. Wenn es ganz schlimm mit der Verpflegung war, gingen die jüngeren Kinder betteln, doch konnten sie in dem hungernden Getto kaum etwas kriegen.
So verging der September 1942. Am Monatsende, als ich in der Stadt mit einer Müllbeseitiger‐Brigade stellvertretend arbeitete, wurde unsere gesamte 20‐Personen‐Gruppe von den Deutschen verhaftet und ins „Janowska” – Lager gebracht. Erst dort spürte ich direkt, was die Wörter Judenfresser und Sadist bedeuten. In dem Lager kamen jeden Tag mehrere Menschen um, auf dem Hinrichtungsplatz war der Sand öfters rot vom Blut. SSMänner, die hier vor der Reise nach Majdanek oder Oświęcim „Praktikum“ hatten, töteten Menschen öfters einfach zum Spaß.
Im Lager musste schwer gearbeitet werden und es herrschte Mangelernährung. Zum Glück traf ich hier einige Bekannte aus Horodenka ‐ Ruwen Prifer, Dawid Gloger, die mir Ausdauer und Selbstrettung beibrachten. Das half mir sehr beim Überleben.
In Lwów im Getto blieb mein Bruder Dziunek, von dem ich jedoch nichts wusste. Ich war über einen Monat lang im Lager. Eines Tages versteckte ich mich beim Ausladen der Kohle aus Kohlenwaggons am Bahnhof und kehrte ins Getto zurück, wo ich Dziunek fand. Nachman war dagegen nicht mehr da und keiner wusste etwas von seinem Schicksal. Wahrscheinlich ist der wundervolle Mensch umgekommen.
Von unserem Vater hatten wir keine Nachrichten, es gab doch keine Post. Wir glaubten, dass er lebt, weil er doch von seinem „guten Deutschen” als Fachmann und kostenlose Arbeitskraft gerettet wurde. Sein Chef brauchte ihn außerdem, weil mein Vater u.a. kleine Kästchen herstellte, die sein Chef mit „Beute“ gefüllt an seine Familie nach Deutschland schickte. Wir bereiteten uns vor und entwickelten den folgenden Plan: wir heißen Darek (Dziunek) und Tomasz Miedziński (polonisierte Version des Nachnamens unserer Mutti ‐ Kupferman). Im Getto müssen wir Geld für Fahrkarten nach Kołomyja erwerben, wir werden dann aus dem Getto entkommen und mit der Bahn legal nach Kołomyja fahren als wären wir Arier. Laut der erdachten Geschichte wurde unser Vater im Jahr 1940 als Beamter in einer Marmeladenfabrik mit unserer Mutter nach Russland deportiert. Wir hatten damals Sommerferien und waren mit Dziunek bei Verwandten in einem Dorf in der Nähe von Lwów und das rettete uns. Unsere Mutter starb in der Verbannung, der Vater soll überlebt haben und nach unseren Kenntnissen nach Kołomyja zurückgekehrt sein. Wir fahren jetzt zu ihm.
Zwecks der Umsetzung des Planes mussten wir unzählige Hindernisse überwinden. Wir hatten keine Ausweise und für einen 14‐Jährigen bestand schon Ausweispflicht. Dziunek sprach kein besonders gutes Polnisch, er sprach beispielsweise das harte „r” und hatte Angst vor deutschen Uniformen, seine semitischen Gesichtszüge würden den „Schmalzowniks“ die Aufdeckung erleichtern. Daher vereinbarten wir, dass er unterwegs schläft, einen Taubstummen vortäuscht und einstudierte Mienen macht. Da ich ein „gutes Aussehen“ hatte und einwandfreies Polnisch und Ukrainisch sprach, übernahm ich die Initiative. Ich kaufte Fahrkarten der III. Klasse und wir fuhren nach Stanisławów, wo wir umsteigen mussten. Wir nahmen Plätze neben einer nett aussehenden Dame ein, die gerade nach Hause fuhr. Das war ein glücklicher Zufall, die Dame war Lehrerin und eine besonders freundliche und herzliche Person, die Mitleid mit uns hatte. Beinahe hätte uns Dziunek verraten, weil er sich für ein Brötchen mit Worten bedanken wollte, er hielt sich aber noch rechtszeitig zurück. Im Gespräch mit der Frau erfuhr ich, dass ihr Mann ein polnischer Offizier und in deutscher Gefangenschaft war, und sie alleine einen 15‐jährigen Sohn versorgen musste. Sie kannte Kołomyja, es gab dort tatsächlich eine in der Region bekannte Marmeladenfabrik. Die Dame rettete uns im Zug vor der Kontrolle durch deutsche Gendarmen, indem sie ihnen in korrektem Deutsch unsere Geschichte erzählte. Sie ließen uns in Ruhe. Dziunek pinkelte vor Angst in die Hose.
Am Abend kamen wir in Stanisławów an, eine Verbindung nach Kołomyja gab es erst am nächsten Tag. Unsere Retterin lud uns zu sich ein, bewirtete uns in einem freistehenden Haus, wir lernten ihren Sohn kennen, der Pfadfinder war. Sie gab uns Delikatessen, die wir seit Jahren nicht gesehen hatten und gab uns ein Zimmer, in dem wir schlafen konnten. Morgens weckte uns ihr Sohn, wir bekamen belegte Brote und ihren Segen, ihr Sohn begleitete uns zum Bahnhof. Erst nach dem Abschied bemerkte ich, dass das Band mit dem Judenstern aus meiner Hosentasche gefallen sein und noch in dem Zimmer liegen musste. Die Dame muss dann gemerkt haben, wer ihre Gäste waren und welche Gefahr dies für ihren Sohn bedeutete, wenn man unsere Identität entdeckt hätte. Immer wenn ich später an gute, edelmütige, herzliche Menschen dachte, kam mir die schöne Gestalt der Frau Lehrerein aus Stanisławów in den Sinn. Bis heute bewundere ich sie aufrichtig und bin ihr dankbar.
Gegen 7 Uhr morgens stiegen wir in einen überfüllten Zug ein. Dziunek tat so als ob er schläfrig wäre, ich nahm grundsätzlich keine Gespräche mit Mitreisenden auf, Fragen von Neugierigen beantwortete ich einsilbig. In Kołomyja kamen wir gegen Mittag an, durch die Stadt gelangten wir zur Getto‐Umzäunung, wir schlüpften in ein Loch im Zaun hinein und gingen zum Haus von Ziama Gutman. Den Vater trafen wir nicht mehr an. Ziama sagte uns, dass die meisten geretteten Fachleute einen Monat zuvor von der Gestapo mitgenommen, in den Wald in Szeparowce transportiert und dort erschossen worden waren. Wieder waren wir allein. Wir zogen wieder in den Holzbau von Ziama ein, wo wir „komfortable Bedingungen” hatten, weil keine Mitbewohner anwesend waren. Ziama half uns sehr, indem er jeden Tag einen kleinen Kessel Suppe von der arischen Seite holte. An einem Novembertag 1942 ging Dziunek raus auf die Straße und kam nie wieder zurück. Wahrscheinlich wurde er mit einer Gruppe nach Szeparowce abtransportiert und getötet. Der grausame Tod, dem er vor einem Jahr in Siemakowce entgehen konnte, holte ihn hier ein. Jetzt war ich ganz allein.
Das stimmt, alle Anzeichen deuteten darauf hin, dass man uns diesen Winter nicht überleben lassen würde. Im Getto fanden täglich Razzien statt, man setzte tägliche Verschleppungsnormen fest, es blieben immer weniger Fachleute. Der Winter näherte sich, es war schon Dezember 1942. Ich hatte keine Chancen auf eine Beschäftigung bei einem ukrainischen Bauern, obwohl ich „richtig aussah” und die Sprache kannte, weil die Bauern ihre Knechte im Winter immer entlassen haben. Ich habe erfahren, dass in der Woiwodschaft Tarnopol in Städten wie Czortków, Buczacz, Tłuste, Kopyczyńce noch jüdische Zentren, sowie Zwangsarbeitslager an Stellen ehemaliger Kolchosen und Sowchosen bestehen, wo junge Menschen zur Feldarbeit notwendig waren. Eines Abends bestach Ziama Gutman einen ukrainischen Polizisten am Getto‐Tor und führte mich – als Huzule verkleidet ‐ durch das Tor in den arischen Teil, wo ich nach Tłuste wieder schwarz gefahren bin. Der bestochene Polizist war der „Blutige Iwan”, der viele Menschen auf dem Gewissen hatte, u.a. einen katholischen Pfarrer, dem er vor dessen Tod noch zwei Kühe weggenommen hatte. Nach dem Krieg wurde er gefasst, er wurde in Jelenia Góra vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt. Ich war Zeuge in seinem Prozess im Jahr 1946. Im Getto in Tłuste blieb ich bis Februar 1943, dann wurde ich ins Zwangsarbeitslager zuerst in Różnanówka und danach in Hołowczyńce verwiesen. Davor ereigneten sich noch „Aktionen” in Tłuste, eine Flucht vom LKW, mit dem wir zum Erschießen nach Czortkowo gebracht werden sollten, mehrwöchige Arbeit als Knecht bei einem reichen Bauern bei Tłuste, von wo mich ein viel älterer und stärkerer Deserteur der Roten Armee vertrieben hat, weil er Angst vor der Auslieferung hatte.
In Różnanówka und Hołowczyńce arbeitete ich beim Sortieren von Tabak, bei Kartoffel‐ und Rübenmieten, ich kümmerte mich um Pferde und galt bei einheimischen Stallknechten als „fleißiger Jude”. Die Ernährung war ausreichend, ein Teil davon konnte ich sogar Bedürftigen in dem sog. „Familienteil“ des Lagers geben. Die Erntezeit war zu Ende und immer öfter tauchten Gestapo‐Männer und ukrainische Polizisten auf, welche nicht arbeitsfähige Personen aussuchten, zu umliegenden jüdischen Friedhöfen fuhren und dort töteten. Ich beschloss daher aufs Land zu fliehen und für Verpflegung und eventuell ein Pud Getreide nach der Ernte bei einem Bauern zu arbeiten. Das war die Methode der Huzulen – Bewohner der Karpaten, die am linken Dnisterufer Beschäftigung suchten. Im August 1943 floh ich aus dem Lager und gelangte in das Dorf Lisowce, wo ich bei dem Ortsvorsteher Wasyl Dziuba Arbeit fand. Meine Hilfe war für dessen Sohn, den 22‐jährigen Petro besonders wertvoll, weil dieser nachts mit der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) Unwesen trieb und tagsüber Schlaf nachholte. Zur Familie gehörte auch die vom Vater verwöhnte 17‐jährige Tochter Natalka. Die Familie Dziuba akzeptierte mich, obwohl ich nicht über eine Geburtsurkunde verfügte, was normalerweise notwendig war. Sie glaubten mir, dass ich aus dem Karpartendorf Sołotwyno komme, wo meine alte Mutter geblieben ist, zu der ich im Herbst zurückkehren will. Ich hatte meine Ruhe bis ich eines Tages in einer geschlossenen Scheune in einer Waschwanne baden wollte. Die neugierige Natalka beobachtete mich heimlich und sagte der Mutter, dass mein Pimmel anders als bei anderen Bauern aussehe. Ich wurde vom Vater zur Rede gestellt und gestand, dass ich Jude bin und dass mein Schicksal in seinen Händen liegt. Zuerst wollte er, dass ich bleibe, doch er hatte Angst vor dem Dorfpolizist namens Schab und beschloss, mich wegzuschicken. Ich wurde mit einem Sack mit Brotvorrat, Speck und Obst ausgestattet und mit den Worten „z Bohom Tośku” (Geh‘ mit Gott) verabschiedet. Ich ging wieder in die Welt, nach einer Rettung suchen.
Ich hatte noch viele andere Erlebnisse, bessere wie schlimmere, ich war an vielen verschiedenen Ereignissen beteiligt. Diese Geschichten werde ich Dir aber ein anderes Mal erzählen, wenn wir unsere Gespräche vielleicht weiterführen werden. Jetzt schließen wir dieses Kapitel – Du hast ja sowieso sehr viel zum Nachdenken und zum Analysieren. Mir scheint es, dass Du trotz dieser langen Gespräche die wichtigste Frage kaum zu beantworten weißt: „Warum haben Menschen Menschen so etwas angetan”.
Niedergeschrieben von:
Piotr Wyrzykowski
Warschau, Mai 2005.