JAN RYSZARD SEMPKA
„Ich war lediglich die Nummer 95959”
Jan Ryszard Sempka – geboren am 13.05.1928 in Warschau. Vor dem Krieg wohnte er in der Zakroczymska Straße Nr. 1. Er nahm am Warschauer Aufstand teil und kämpfte in der Altstadt. Nach der Niederlage der Aufständischen teilte er das tragische Schicksal der Einwohner der Hauptstadt. Von den Deutschen wie ein Zivilist behandelt, kam er in das Konzentrationslager Mauthausen.

[…] Am 4. September 1944 gegen 11 Uhr hielt der Zug am Bahnhof Mauthausen an. Alle gerieten in Panik, denn der Name Mauthausen war vielen Menschen bekannt. Der Zug blieb circa zwei Stunden lang stehen und nichts passierte. Eisenbahner sagten, dass sie abwarten bis die Strecke frei wird und wir dann nach Linz fahren würden. Gegen 13 Uhr wurde der Zug von SS‐Männern umstellt, die uns mit Gewalt aus den Waggons schmissen, uns befahlen, Kolonnen zu bilden und uns durch die Stadt in eine damals unbekannte Richtung trieben. Außerhalb der Stadt sahen wir oben in einiger Entfernung ein befestigtes Lager. Es waren Steinmauern mit Wachtürmen zu sehen. Da begriffen wir, dass man uns nicht zur Arbeit in Weinbergen, sondern zu dem bekannten Konzentrationslager führte.

Die Männer wurden durch ein riesiges Holztor auf das Lagergelände getrieben, die Frauen und Kinder blieben draußen vor der Mauer stehen. SS‐Männer trieben uns auf einen Platz zwischen der Mauer und den Baracken, wo sich das Bad und eine Wirtschaftsbaracke befanden. Man befahl uns, uns nackt auszuziehen, nur Schuhe und Gürtel oder Hosenträger durften wir behalten. Dann wurde uns befohlen, Wertsachen, Geld, Dokumente und andere Andenken abzugeben. Man hielt uns bis in die späten Abendstunden auf dem Platz fest, dann trieb man uns gruppenweise in das Bad. Hier wurden alle kahl geschoren, jedem wurde in der Mitte des Kopfes ein 3‐4 Zentimeter breiter Streifen rasiert. Aus dem Bad wurden wir durch einen anderen Ausgang herausgelassen, wo bereits Häftlinge warteten. Jedem von uns wurde ein Stück Unterwäsche, ein Unterhemd oder eine Unterhose zugeworfen, alles sehr abgenutzt, mit einem Hosenbein kürzer als das andere, ärmellose Hemden usw. Unter Schreien und Schlägen trieben uns SS‐Männer über die Hauptstraße des Lagers (welches in drei Teile geteilt war) zum letzten Teil, dem sog. dritten Lager. Es war schon dunkel, das Gelände war nicht beleuchtet. Wir wurden in düstere Erdgeschossbaracken getrieben, wo wir uns auf den Boden setzen sollten, beginnend von der linken Wand. „Funktionshäftlinge“ – Blockführer und Kapo hetzten andere Häftlinge. Die Baracke wurde mit so vielen Personen wie möglich vollgestopft. Die Häftlinge saßen die ganze Nacht auf dem nackten Boden, zusammengedrängt, auf der rechten Seite der Baracke lagen dagegen Strohsäcke, bis zur Decke aufgestapelt. In der Nacht stand ein neben mir sitzender Häftling auf und verließ die Baracke. Am nächsten Tag fand man ihn im Waschraum, er hing an seinem Gürtel, der an einem Balken befestigt war, er hatte auch aufgeschnittene Pulsadern. Überall um ihn herum war Blut. Ich hörte von anderen Häftlingen, dass er Besitzer einer Apotheke in der Altstadt gewesen war. Wahrscheinlich war er mit den Nerven am Ende und beging Selbstmord.

Vor Sonnenaufgang wurden die Häftlinge aus fünf Baracken, mit den Nummern 26 bis 30, nach draußen gejagt. Es war sehr kalt, die Temperatur muss unter null gewesen sein, weil alles mit Raureif überzogen war. Menschen wärmten sich gegenseitig mit ihren Körpern, indem man sog. Kamine bildete, d.h. sich in Gruppen aneinander schmiegte. Der Anblick der rasierten Häftlinge in Unterwäsche war schrecklich, sogar beste Freunde konnten sich gegenseitig nicht wiedererkennen. Der erste Kontakt mit dem Konzentrationslager war erschreckend. Seit der Ankunft, oder eigentlich seit der Zeit des bescheidenen Essens in Wien kriegten wir nichts zu Essen oder Trinken. Einige Stunden lang standen wir draußen, bis endlich einige Tische auf das Gelände dieses Lagerteiles gebracht wurden und mit der Registrierung der Häftlinge angefangen wurde. Man schrieb unsere Personaldaten auf und teilte uns Häftlingsnummern zu. Ich erhielt die Nummer 95959 und ab diesem Moment war ich nur noch diese Nummer.

Ich wurde zum Block Nr. 27 zugeteilt. An diesem Tag und den nächsten Tagen war das Wetter wunderschön, obwohl nachts und frühmorgens leichter Frost herrschte. Gegen Mittag erreichte die Temperatur bis zu 35 Grad. Den ganzen Tag lang ließen uns die Blockführer nicht in die Baracken rein, wir mussten auf dem Platz stehen bleiben, wo es keine Bäume gab. Wir versuchten uns im Schatten der Baracken und der Mauern zu schützen. Infolge der Überhitzung bekamen einige einen Hitzschlag. Einem Häftling schwoll das Gesicht so stark an, dass ein Auge nicht mehr sichtbar war. Wir verspürten ständig Durst. Als zum Frühstück Kaffee von der Küche geholt wurde, ließ der Blockführer jugendliche Häftlinge damit den Boden in der Baracke wischen. Uns wurde dagegen eine Portion für drei, vier Personen zugeteilt. Wir nahmen aus einer Schüssel der Reihe nach ein paar Schlucke der bitteren, dunklen Flüssigkeit. Schon in den ersten Tagen im Lager, in der sog. Quarantäne, litten Manche an Durchfall. Sie wurden in das Lagerkrankenhaus, das sog. Revier gebracht.

Meine Quarantäne dauerte bis zum 12. September 1944. An diesem Tag wurde ich am frühen Morgen mit einer Gruppe von über 400 Personen in das Außenlager in Melk gebracht. Am Vortag wurde jedem Häftling Unterwäsche, d.h. Unterhemd und Unterhose, sowie eine Hose, eine Bluse und eine runde Mütze mit grau‐blauen Streifen gegeben. Jeder Häftling erhielt auch zwei Stoffstreifen, auf die ein rotes Dreieck (Zeichen für politische Häftlinge) gedruckt war. Auf die Streifen sollten wir unsere Häftlingsnummern schreiben. Einen Streifen sollten wir an die Bluse, links über die Brust, den anderen an das linke Hosenbein, seitlich über das Knie nähen.

[…] In Melk, das ca. 90 km von Mauthausen und ungefähr genauso weit von Wien entfernt war, kamen wir am Nachmittag an. Das Lager befand sich in einer ehemaligen Kaserne. Auf dem Gelände befanden sich einige gemauerte Gebäude, manche mit zwei oder drei Stockwerken, es gab auch einige Baracken. Der Eingang zum Lager kündigte nichts Gutes an. Doppelte Stacheldrahtumzäunung unter Strom, Wachtürme mit Wachmännern, die Handfeuerwaffen und Maschinengewehre hatten. Am Tor stand ein Mast, an den mit Händen und Füßen ein Häftling gebunden war. So wurde er für eine mir damals noch unbekannte „Verfehlung“ bestraft. Die anderen Häftlinge machten auch einen bedrückenden Eindruck. Manche versuchten, aus leeren Kesseln Suppenreste auszukratzen. Andere durchwühlten Mülleimer und suchten nach Essen. Sie versuchten natürlich, unauffällig zu handeln, weil für solches Verhalten schmerzliche Strafen drohten (im besten Fall wurde man von den SS‐Männern oder den Funktionshäftlingen verprügelt).

Unsere gesamte Gruppe wurde dem Block Nr. 13 zugeordnet, der sich in einem großen Raum im ersten Stock befand. Der Raum wurde mit Brettern (mit großen Spalten) in vier Teile geteilt. Jeder Teil stellte einen separaten Block dar: Nummer 10, 11, 12 und 13. Insgesamt befanden sich auf dieser Ebene ca. 2000 Häftlinge. Jeder Block hatte eine eigene Blockführung. Unser Blockführer wurde ein deutscher Häftling, der mit einem grünen Dreieck kennzeichnet war, was auf einen kriminellen Häftling hindeutete. Er ordnete sofort einen Appell an und wies einer Reihe von Personen unterschiedliche Aufräum‐ und Einrichtungsarbeiten im Block zu […].

Die Einrichtung des Blocks bedeutete hauptsächlich, dreistöckige Pritschen zu holen und sie nebeneinander zu stellen, indem immer nur ein schmaler Durchgang gelassen wurde, damit man zu den einzelnen Liegeplätzen Zugang hatte. Auf die aus ungehobelten Brettern zusammengenagelten Pritschen legte man Papiersäcke mit Holzspänen. Auf jedem Liegeplatz befanden sich zwei alte, abgewetzte, graue, stinkende Decken. Am selben Tag wurde für jeden Häftling eine Akte angelegt, wir wurden in Arbeitsgruppen, sog. Kommandos eingeteilt. Ich wurde dem 50‐Personen‐ Kommando Keller Lutz Wasser zugeteilt. Die Bezeichnung kam vom Namen der Firma, für die gearbeitet wurde. Am nächsten Tag wurden wir gegen 4 Uhr morgens zuerst durch einen Glockenschlag und dann durch Schreie des Blockführers und anderer Funktionshäftlinge geweckt, die „aufstehen!” brüllten und im Block herumliefen. Diejenigen , die sich am nächsten befanden, trieben sie in die Küche, damit sie Frühstück holen, das aus einem Becher schwarzen bitteren Wassers, sog. Kaffees und aus einem Achtel eines 1‐kg‐Brotlaibes bestand. In dieser Zeit mussten sich die Häftlinge in aller Eile anziehen, die „Betten“ machen und unten in den Waschraum laufen, dann sollten sie im Block als separate Kommandos antreten. Das Essen wurde nämlich je nach der Zahl der in einem Kommando arbeitenden Leute ausgegeben. All diese Tätigkeiten wurden von Schreien, Beschimpfungen und Drängen seitens der Blockführer begleitet. Verspätete wurden geschubst und geprügelt. Nach dem Frühstück – alles in großer Eile und öfters im Stehen – traten die Häftlinge in Kolonnen vor dem Gebäude an, fünf Leute in jeder Reihe. Danach wurden wir nach mehrmaligem Zählen und Anwesenheitskontrolle zum Appellplatz geführt. Hier fand um 5 Uhr der Gesamtappell des Lagers statt. Hier wurden wir wiederholt vom Blockführer (einem SS‐Mann), Raportführer und dann vom Lagerkommandanten gezählt. Nach dem Ende des Appells gingen wir zur Arbeit: Manche auf dem Lagergelände, Andere dagegen verließen, unter der ständigen Bewachung durch bewaffnete SS‐Männer, öfters mit Hunden, das Lagergelände.

Mein Kommando arbeitete in einer Entfernung von ca. 5 km vom Lager. Wir wurden von fünf SS‐Männern bewacht. Unsere Aufgabe war es, Gräben im felsigen Boden zu schlagen und dann Rohre von großem Durchmesser dort einzubauen, mit denen Wasser von der Donau zu entfernten Stollen von Steinbrüchen fließen sollte. Jeden Tag gingen wir zu Fuß zur Arbeit und zurück. Das Mittagessen aus zerkochten Kohl, Kohlrüben und Karotten, und in der Wintersaison aus getrocknetem Gemüse, wurde mit einem Auto zu unserem Arbeitsort gebracht. Es kam jedoch vor, dass das Essen nicht geliefert wurde, sondern uns erst mit dem Abendessen auf dem Lagergelände, in unserem Block, ausgegeben wurde. Jeder Häftling musste ein Gefäß für das Essen haben. Jeder hütete sein Gefäß wie seinen Augapfel, weil man ohne ein eigenes Gefäß kein Essen bekam. Manche hatten Blechschüsseln, Andere schwere Tonschüsseln, noch Andere alte Dosen. Dasselbe betraf Löffel, die uns bei der Ankunft in Melk gegeben worden waren. Es gab unterschiedliche Methoden, die Gefäße bei sich zu tragen, weil man sich von ihnen nicht trennen durfte. Eine Blechschüssel war am einfachsten anzubringen. In der Regel schlug man seitlich ein Loch in die Schüssel und befestigte sie dann am Gürtel. Mit Tonschüsseln wurde die Sache problematisch. Dazu waren sie schwer, was wegen des täglichen 10‐Kilometer‐Marsches eine schmerzliche Erfahrung war. Das Abendessen bestand aus einem Schöpflöffel schwarzen, bitteren sog. Kaffees und einem Achtel Brotlaib, manchmal auch aus einem Löffel Quark oder einem Stück Margarine (einige Gramm) oder Marmelade. Es kam auch vor, dass wir an Feiertagen ein Scheibchen Wurst erhielten. Des öfteren gaben Blockführer aus Bequemlichkeit die doppelte Brotportion nur einmal am Tag aus, morgens oder abends, was für die Häftlinge von Nachteil war, weil man in der Regel die ganze Portion auf einmal aß und entweder hungrig schlafen oder am Morgen mit nüchternem Magen zur Arbeit ging.

Am 17. September 1944 war ein arbeitsfreier Sonntag. Häftlinge, die außerhalb des Lagergeländes arbeiteten, hatten jeden zweiten Sonntag frei, weil man das System der Schichten (im Stollen gab es ein Dreischichtsystem) umstellen musste und die Aufsicht habenden SS‐Männer und Zivilmeister Gelegenheit zur Ruhe haben sollten. Beim Morgen‐ und Abendappell waren alle Häftlinge anwesend (abgesehen von denen, die im „Revier“ waren). Nach dem üblichen Prüfen der Kopfanzahl wandte sich der Lagerkommandant an die Neuangekommenen und warnte sie davor, die Disziplin zu vernachlässigen und Fluchtversuche zu unternehmen, weil fliehende Häftlinge immer ergriffen und zum Tode verurteilt würden. Er stellte auch fest, dass keiner länger als drei Monate im Lager leben dürfe und dass es nur einen Ausgang gäbe – durch den Schornstein des Krematoriums. Nach wenigen Tagen im Lager, während derer wir ständig Prügelstrafen, Todestrafen, Anbinden an Maste, Ertränken in Fässern und andere Formen der Häftlingsmisshandlung beobachten mussten, waren wir überzeugt, dass der Lagerkommandant recht hatte und man länger in dem Lager nicht überleben würde. Man musste um jeden Preis Situationen vermeiden, in denen man geprügelt oder getötet werden könnte.

Der „freie Sonntag” war kein Erholungstag für uns Häftlinge. Man ließ sich verschiedene Schikanen für uns einfallen. Der Blockführer unseres Blockes hatte den „Ehrgeiz“, den Häftlingen aus seinem Block das Gebaren einer Militäreinheit im Defilee beizubringen. Daher hatten wir unabhängig vom Wetter den ganzen Tag lang das schnelle Aufstellen in Kolonnen ‐ immer fünf oder zehn Männer in einer Reihe – zu üben. Häftlinge, welche es nicht schafften, in der kurzen Zeit den richtigen Platz in der Kolonne einzunehmen, mussten wie Frösche um die Kolonnen herum springen. Es wurde Abnehmen und Aufsetzen von Mützen im gleichen Tempo geübt, damit alle auf Kommando „Mützen ab” mit ihren Mützen gegen den rechten Oberschenkel schlugen, so dass ein lautes Geräusch zu hören war. Auf Kommando „Mützen auf” mussten Mützen gleichzeitig und blitzschnell aufgesetzt werden. Häftlinge, welche die Befehle nicht schnell genug ausführten, mussten wie Frösche springen, aufräumen, die Fußböden putzen oder sie wurden verprügelt.

Eine andere Qual waren für die Häftlinge das sog. Gruppenwaschen und die Kleidungsdesinfektion. In der Nacht löste man ohne Vorwarnung Alarm aus. Alle Häftlinge mussten sich ausziehen, ihre Kleidungsstücke sollten sie so zusammenfalten, dass die Häftlingsnummern sichtbar blieben. Ausgewählte Häftlinge brachten die Kleidung zum Dampfbad. Die nackten Häftlinge wurden unabhängig vom Wetter – bei Regen oder Frost, unter Schreien und Schlägen bis zum Badehaus gejagt, das ca. 150‐200 Meter entfernt war. Hier wurde je nach Laune der Kapos nur kaltes oder heißes Wasser laufen lassen. Nach wenigen Minuten wurde eine Gruppe aus dem Badehaus herausgelassen und die nächste hineingelassen. Die Häftlinge liefen zu ihrem Block, wo der Blockführer mit den Kapos wartete und prüfte, ob jeder Häftling sauber genug war. Wenn sie feststellten, dass ein Häftling nicht richtig gewaschen oder mit Matsch bespritzt war, was bei dem schnellen Lauf zum Block öfters der Fall war, wurde der Häftling sooft zum Badehaus gejagt, bis er sauber zurückkam. In einer solchen Nacht konnte niemand schlafen. Nach einiger Zeit wurden vom Dampfbad nasse und nicht mehr gefaltete Kleidungsstücke zurückgebracht, ohne dass die Häftlingsnummern direkt sichtbar waren. Daher dauerte es sehr lange, bis man die eigene Kleidung fand. Und zum Morgenappell musste jeder angezogen erscheinen. Das waren schreckliche Nächte; Häftlinge, die dann in der Nachtschicht arbeiteten, hatten Glück.

In dem Kommando Keller arbeitete ich ca. sechs Wochen lang, in einer 50‐Personen‐Gruppe, die aus Einwohnern Warschaus bestand. Anfangs beneideten uns unsere Kollegen vom Stollen, da wir immer an der Oberfläche und nur in einer Schicht arbeiteten. Doch als erst Regenwetter und dann Frost kamen und wir in unserer nassen und dünnen Kleidung arbeiteten, ohne dass man sich vor dem Regen schützen oder aufwärmen konnte, fingen wir an, die zu beneiden, die im Stollen arbeiteten. Das war für mich die schlimmste Phase im Konzentrationslager. Ich erinnere mich noch, als mein Freund Zbyszek Wąsowicz, der drei Jahre älter als ich, d.h. 19 Jahre alt war, und ich vor Kälte und Hunger weinten, während wir mit Keilhauen Gräben schlugen und aus den Rohren über den Gräben Wasser auf uns herunter rann. Damals dachten wir, dass wir unter solchen Umständen nicht mal vom Überleben der vom Kommandanten erwähnten drei Monate träumen können.

Eines Tages ging unsere Gruppe zu einer anderen Arbeitsstelle, wir trugen unterschiedliche Gegenstände, Werkzeuge, Balken, Ketten usw., so bildeten wir keine ordentliche Kolonne. Das sah von weitem der Lagerkommandant, SS‐Hauptsturmführer Julius Ludolf. Er kam schreiend zu uns und verprügelte unseren Kapo, einen ungarischen Juden, der im Vergleich zu vielen anderen Kapos ein anständiger Mensch war. Der Gruppenkommandant wurde suspendiert, die Führung an einem anderen SS‐Mann übergeben. Nach der Rückkehr ins Lager wurde unsere Gruppe aufgelöst und wir wurden anderen Kommandos zugeordnet. Ich hatte irgendwie kein Glück, weil ich einem der schwersten Kommandos, dem sog. Kommando Merkendorf zugeordnet wurde. Der Name kam von der Ortschaft, in der wir eine Siedlung aus Baracken für die Einwohner Wiens bauten, deren Häuser bombardiert worden waren. Der Kommandoführer und die SS‐Männer, die er sich als Gehilfen auswählte, waren ausgesprochene Sadisten. Die Strecke zur Arbeit, ein ca. 4 km langer lehmiger Weg, machte uns fertig. Unsere Aufgaben waren Kiestransport mittels Schubkarren, Tragen schwerer Stahlbetonelemente, Ausladen vom Zement, Tragen großer Gefäße mit Wasser u.a. An jedem Tag wurde ein Häftling vom Kommandoführer bis zur Bewusstlosigkeit geprügelt oder zumindest solange, bis er stark blutete. Er stellte einen Häftling an die Wand eines Gebäudes und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht, sodass der Kopf nach hinten gegen die Wand schlug. Das war seine Lieblingsmethode. Er hörte erst auf, wenn der Häftling stark blutete. Alles konnte Anlass zu Prügeln geben: ungleiches Marschieren der Kolonne, zu langsames Arbeiten, ein vom Zementsack abgerissenes Stück Papier unter der nassen Bluse, eine vor einem SS‐Mann nicht abgenommene Mütze usw.

Ein Tag ist mir besonders im Gedächtnis geblieben. Unser aus einigen Hundert Personen bestehendes Kommando fuhr einen Teil der Strecke nach Merkendorf mit einem Güterzug. In geringer Entfernung vom Bahnhof Melk stand eine Holzrampe, auf die die Häftlinge getrieben wurden. Dann kam der Güterzug. Die Häftlinge mussten in den Waggons dichtgedrängt auf der rechten und linken Seite stehen, damit die Mitte für die SS‐Männer frei blieb. Wir wurden einige Kilometer auf das Stollen‐Gelände transportiert, wo eine identische Rampe stand. An jenem Tag spürte ich beim Gehen, dass ich meine Beine kaum beugen konnte. Ich stellte fest, dass sie immer stärker anschwollen. Nachdem wir das Stollen‐Gelände erreicht hatten und auf die Rampe getrieben worden waren, wurde eine Kolonne gebildet. In der Kolonne gingen wir immer untergehakt, so dass man mit der rechten Hand den Häftling rechts hielt. Als ich die Rampe verlassen wollte, konnte ich meine Beine nicht mehr beugen, so wurde ein Teil der Kolonne meinetwegen gebremst und es bildete sich eine Lücke. Der neben uns gehende SS‐Mann befahl dem Häftling an meiner rechten Seite, mich einzuhaken und den Marsch der Kolonne zu beschleunigen. Der Häftling reagierte mit Widerwillen darauf. Der SS‐Mann schlug ihm mit seinem Gewehrkolben auf den Kopf, so dass er mit dem Gesicht nach vorne stürzte. Einen Moment lang ging alles durcheinander, ich wurde in die nächste Fünfergruppe geschoben, der Häftling dagegen, an dessen Stelle ich geschoben wurde, musste mit einem Anderen aus meiner Fünfergruppe den Bewusstlosen nehmen und auf den Platz bringen, wo der Appell vor der Arbeit stattfand. Die Kopfzahl der Häftlinge musste nämlich immer stimmen. Der Bewusstlose wurde neben unsere Kolonne auf den Boden gelegt. Nach kurzer Zeit kam der Oberkapo – ein Krimineller mit einem grünen Dreieck, den wir „Zigeuner“ nannten. Er trat den liegenden, bewusstlosen Häftling und schrie „aufstehen!”. Da der Häftling nicht reagierte, legte ihm der Oberkapo einen Pflock auf den Hals, stellte sich drauf und erwürgte sein Opfer.

Die Ausschreitungen dieses Kriminellen waren im Lager bekannt. Fast jeden Tag brachte man einen von ihm ermordeten Häftling ins Lager. Seine liebste Mordmethode war das Ertränken der Häftlinge, indem er deren Kopf in ein Fass mit Wasser eintauchte. An jenem Tag ging ich am Abend ins „Revier“, wo Ärzte, die selbst Häftlinge waren, jeden Abend Kranke zur Untersuchung aufnahmen. Über die Aufnahme eines kranken Häftlings ins Krankenhaus konnte jedoch nur ein SS‐Arzt entscheiden. Ich war hüfthoch geschwollen, so dass man meine Hose auftrennen musste. Es wurde entschieden, dass ich im Krankenhaus bleiben sollte. Die Krankheit, die wir im Lager „Ödem“ nannten, wurde hauptsächlich durch den Hunger, äußere Bedingungen und die generelle Erschöpfung des Organismus verursacht. Es war sehr schwierig, ins Revier zu gelangen und einen Aufenthalt dort hielten die Häftlinge für ein Riesenglück, weil man so der aufzehrenden Arbeit entkam, geschützt unter Dach blieb und bessere Chancen hatte, Essen zu kriegen, weil viele Kranke, insbesondere die mit hohem Fieber, keine Nahrung zu sich nahmen, sondern nur einen heftigen Durst verspürten. Kranke tauschten ihr Essen gegen Flüssigkeit (Kaffee). Im Revier waren die Lebensbedingungen sehr schwer. Zum Liegen dienten mehrstöckige Pritschen, auf jeder lagen je nach Zeitraum drei bis vier Häftlinge. Im Herbst und im Winter stieg die Zahl der Kranken deutlich, genauso die Sterberate. Im frühen Herbst wurden die Verstorbenen zum Krematorium in Mauthausen abtransportiert und in Melk bestand das Revier nur aus einer Baracke. Ende 1944 gab es schon ein zweites Reviergebäude und zusätzlich ein Krematorium, in dem die Verstorbenen und Ermordeten verbrannt wurden.

Im Revier mussten Häftlinge, die noch laufen konnten, eine Reihe von Arbeiten verrichten, die ihnen die Revierführung übertrug. Unter anderem waren das Aufräumen, Essenbringen, Versorgung, Verstorbenentransport Eines Tages wurde ich in den Keller geschickt, wo ich ein verstopftes Rohr reinigen sollte. Als ich nach unten ging, stellte ich mit Entsetzen fest, dass sich in dem Keller ein Leichenhaufen befand und dass ich auf den Haufen steigen musste, um das verstopfte Rohr unter der Decke zu erreichen. Ich wusste, was mir bei Nichtausführung des Befehls drohte, diese Drohung war stärker als die Angst. Der Gedanke, dass ich auf die Leichen meiner Kollegen steigen muss, entsetzte mich. Trotz eines riesigen inneren Widerstandes musste ich der Anweisung folgen. Bis heute höre ich das Krachen der unter meinen Füßen zerbrechenden Knochen, obwohl ich mich bemühte, mich vorsichtig zu bewegen. Das schlimmste war, dass ich unter dem Rohr auf die andere Seite gelangen musste, und dazu auf den Leichen fast kriechen musste. Es war schrecklich, dass der Berg unter dem Druck meiner Füße auseinander glitt. Es schien mir, als ob sich die Arme und Füße der Leichen anhoben. Das werde ich nie vergessen!

Mein Aufenthalt im Revier dauerte nur wenige Tage. Da ich in einem ziemlich warmen Raum bleiben konnte und nicht zur Arbeit gehen musste, sondern auf einer Pritsche lag, ließ die Schwellung nach.

Der Revierkommandant, ein SS‐Arzt machte alle paar Tage morgens eine Begehung. Da ich kein Fieber mehr hatte, entschied er, dass ich in meinen Block zurückkehren konnte. Noch am selben Tag wurde ich zur Arbeit in der Nachtschicht im Kommando Czernichowski Lokschuppen geschickt. Wir waren eine Gruppe von 15 Häftlingen, deren Aufgabe es war, Waggons auf dem Gelände der Stollenbaustelle auszuladen. Wir hatten in der Regel Zement, Kies, Steinschlag und sonstiges Baumaterial abzuladen. Die Arbeit war sehr schwer, wir blieben die ganze Zeit draußen, auch bei Regenwetter, Schnee, Frost und starkem Wind. Man darf nicht vergessen, dass unsere Kleidung für Arbeit unter solchen Bedingungen überhaupt nicht geeignet war. Ich hatte nur ein Hemd und eine dünne Bluse an und einen Streifenmantel aus demselben Stoff. Die Schuhe, in denen ich ins Lager kam, hatten sich längst abgenutzt. Ich kriegte Holzschuhe, die ich mit einem Draht an meinen Füßen festband. Von Socken konnte keine Rede sein. Füße umwickelte man in der Regel mit Lappen oder Papier aus Zementsäcken. Manche liefen barfuß, weil sie keine Holzschuhe hatten.

Die Zeit um Weihnachten 1944 ist mir besonders im Gedächtnis geblieben. Am Heiligen Abend ging nur die erste Schicht zum Stollen, weil die Arbeitspause zwei Weihnachtstage dauern sollte. An dem Tag [...] wurden alle auf dem Stollen‐Gelände arbeitenden Häftlinge gegen 13 Uhr zum Appell gerufen. Normalerweise fanden Appelle immer vor der Arbeitsaufnahme und nach Arbeitsschluss statt. Jeder Kapo schrieb die Nummern der Häftlinge seiner Gruppe auf und meldete dem Kommandoführer die Kopfzahl in der Gruppe. Nach Arbeitsschluss versammelte er die Gruppe wieder und prüfte, ob alle anwesend waren. Der Stand musste übereinstimmen. War ein Häftling gestorben oder ermordet worden, dann legte man die Leiche neben die Gruppe. Ein vom Kommandoführer gewählter SS‐Mann – der Raportführer zählte die Kopfzahlen der einzelnen Gruppen zusammen und prüfte, ob diese mit dem Stand vor der Arbeitsaufnahme, als wir das Lager verlassen hatten, übereinstimmten. Am Heiligen Abend wurden wir nach der Arbeit mehrmals gezählt, da in einer Gruppe die Kopfzahl nicht stimmte. Es fehlte ein Häftling, ein Pole, der vor wenigen Tagen aus Auschwitz gekommen war, wie sich später herausstellte. An dem Tag gab es Schneeregen. Das Stollen‐Gelände war groß. Es gab sehr viele Stellen, wo man sich verstecken konnte. Alle wussten, dass die SSMänner während der Weihnachtstage ihre Wachtürme verließen, mit uns ins Lager, in ihre Kasernen gingen und dass das Gelände dann unbewacht blieb. Der Häftling hoffte wahrscheinlich, dass er in dieser Zeit, in der nicht die normale Bewachung herrschte, fliehen kann. Es herrschte eine große Aufregung unter den SS‐Männern und den anderen Aufsehern. Wenn ich mich recht erinnere, gab es in unserem Lager seit langem keine Fluchtversuche, in allen Fällen wurden die geflohenen Häftlinge ergriffen und ermordet.

Wir blieben bis in die späten Abendstunden ohne Essen, im nassen Schnee und Matsch auf dem Appellplatz stehen. Gegen 22 Uhr kam eine große Gruppe SS‐Männer, die die Wachhabenden auf den Wachtürmen ablösten und dann wurde der Zug nach Melk bereitgestellt. Als wir von der Bahnstation zum Lager den Berg hinaufgingen, sahen wir in den Fenstern der Stadtbewohner die Lichter an ihren Weihnachtsbäumen und hörten Weihnachtslieder. An diesem Tag verhielten sich die SS‐Männer, die uns bewachten, besonders brutal. Im Lager sahen wir auf dem Appellplatz einen großen, beleuchteten Weihnachtsbaum. Jeder von uns kriegte ein halbes Brot für die gesamte Weihnachtszeit, sowie eine Prise geschnittener Tabakwurzel und ‐blätter. Das war die einzige Tabakration für Häftlinge, an die ich mich erinnern kann.

Am nächsten Tag früh morgens sollten sich Blockführer, Kapos und Lagerpolizisten auf dem Appellplatz versammeln. Eine große Gruppe von ihnen wurde ausgewählt und fuhr zusammen mit einer großen Gruppe SSMänner zum Stollen, um nach dem verschwundenen Häftling zu suchen. Für die Verbliebenen fing der Tag normal an. Nach dem Morgenappell kehrten wir in den Block zurück. Es wurde uns Kaffee gegeben, der an dem Tag anders, leicht süß schmeckte. Wahrscheinlich mischte man den Kaffee mit getrockneten, gerösteten Zuckerrüben. Für mich fing der Tag tragisch an. Beim Kaffeekessel traf ich auf den Blockführer, der bemerkte, dass ich einen Flanell‐Lappen am Hals hatte. Es war ein Armband, das manche Häftlinge bekamen, die im Block blieben, und das ich nicht zurückgegeben hatte. Dem Blockführer gefiel es nicht, dass ich es als Tuch am Hals hatte. Er riss es mir weg und befahl mir, mich nackt auszuziehen und meine gesamte Kleidung zur Desinfektion zu geben. Da ich beim Zementtransport arbeitete und dort Säcke trug, die oftmals durchgerissen waren, hatte ich Zementspuren an Kopf und Hals. Im Lager konnte man kaum sauber bleiben, weil es in dem gemeinsamen Waschraum und in der Toilette nicht immer Wasser gab, nicht mal kaltes, es fehlte an Seife, wir hatten keine Handtücher, und ich hatte verfrorene Hände mit offenen Wunden an den Fingern.

Der Blockführer rief einen jungen Häftling, den Stubendienst, gab ihm einen Schrubber und befahl ihm, mit mir in den Waschraum zu gehen und mich mit dem Schrubber zu putzen. Der Waschraum befand sich in einem kleinen Gebäude, ca. 30 m vom Block entfernt. An dem Tag gab es starken Frost, der noch bis Mitte März anhielt. Alle Bäume und der Drahtzaun, waren mit Raureif bedeckt. Ich hatte doch ein bisschen Glück, weil der Stubendienst ein Pole aus Schlesien war, der sich bemühte, mir bei der Beseitigung der Zementspuren zu helfen, indem er mit dem Schrubber mit Wasser leicht rieb, Seife hatte ich nicht. An diesem Tag lief ich nur in eine Decke eingehüllt. Ich musste bis zum nächsten Tag durchhalten, an dem ich meine nasse Kleidung zurückkriegte.

Am Nachmittag (des ersten Weihnachtstages) kamen die Gruppe der Funktionshäftlinge und die SS‐Männer zurück. Sie brachten auch den verprügelten Häftling mit, der am vorigen Tag nicht aufzufinden gewesen war. Er hatte sich in einem Kanalisationsrohr versteckt. Er konnte leider nicht fliehen, weil das gesamte Gelände durch SSBewacher auf den Wachtürmen und Patrouillen gut bewacht wurde. Beim Abendappell wurde der Häftling in bunten Lappen und mit einem Schild, auf dem auf Deutsch geschrieben stand: „ich floh und wurde ergriffen”, vor die auf dem Appellplatz versammelten Häftlinge geführt. Soviel ich weiß, genoss der Häftling eine eigenartige Art Weihnachts‐Amnestie. Er erhielt nicht die sonst üblichen 75 Peitschenhiebe und wurde nicht für zwei, drei Tage und Nächte ohne Essen und Trinken an eine Stütze gebunden. Ich weiß aber nicht, ich erinnere mich nicht, ob er zur Strafkompanie nach Mauthausen geschickt wurde.

[…] Da die Sterberate unter den Häftlingen aufgrund der Lebensbedingungen sehr hoch war, wurden von Zeit zu Zeit Transporte mit einigen Hundert neuen Häftlingen nach Melk geschickt, die die toten Häftlinge bei der Arbeit ersetzen mussten. Nach Neujahr verringerte sich deutlich der „Zufluss“ von Häftlingen, weil die Front immer näher an die Grenzen Deutschlands heranrückte. Daher wurden Häftlinge gezwungen, länger als in einer Schicht zu arbeiten.

Mitte Februar 1945 wurde mir nach der Rückkehr von der ersten Schicht vom Schreiber mitgeteilt, dass ich in wenigen Stunden in die Nachtschicht muss. Nachdem ich Abendessen gekriegt und noch zwei Stunden bis zum Appell hatte, legte ich mich ganz erschöpft und erfroren auf eine der oberen Pritschen in der Baracke, ohne auf die drohende Strafe zu achten und schlief ein. Ich wurde durch Schreie im Block geweckt. Ich hörte mehrmals meinen Namen, was im Lager sonst nie passierte, weil man die Häftlinge nur bei ihren Nummern nannte. Ich wusste nicht, was los war. Es stellte sich heraus, dass man eben festgestellt hatte, dass im Kommando ein Häftling fehlte. Laut Kartei handelte es sich um mich. Ich sprang von der Pritsche und lief zur Kolonne. Der Schreiber und der Blockführer entdeckten mich gleich. Ich wurde mit zehn Gummiknüppelschlägen auf den Rücken bestraft. Als ich aufstand, kriegte ich vom Blockführer noch einen Schlag auf den Kopf. Die Kolonne der Häftlinge vom Block 13 ging schnell zum Appellplatz. Die Häftlinge aus allen anderen Blöcken waren schon da. Der Blockführer, ein SS‐Mann, schrie unseren Blockführer an, warum wir zu spät seien. Der antwortete, dass sich ein Häftling versteckt hatte, der nicht zur Arbeit wollte. Darauf befahl der Lagerkommandant dem Lagerpolizisten, mich 25 Mal mit einem Ochsenziemer zu schlagen. Wie viel Schläge ich kriegte, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass ich laut bis 14 zählte, dann fiel ich in Ohnmacht. Der Geschlagene war zum lauten Mitzählen verpflichtet. An dem Tag ging ich nicht mehr zur Arbeit, sondern wurde von Kollegen ins Revier gebracht. Nach einigen Tagen wurde ich in ein Zimmer gebracht, in dem ein SS‐Arzt arbeitete. Ich wurde von einigen Ärzten untersucht, unter anderem von einem in SS‐Uniform.

Am nächsten Tag oder zwei Tage später (ich weiß es nicht mehr genau), wurde ich verschiedenen Eingriffen unterzogen. Ich kriegte einige Spritzen ins Bein, über das Knie. An den nächsten Tagen machte man mir Umschläge aus einer dunklen Flüssigkeit, bis ich hohes Fieber bekam. Mein Bein schwoll an und wurde rot‐blau, danach bildeten sich eitrige Wunden am Fuß, über dem Knöchel, unter dem Knie und unter dem rechten Arm. Der Krankenpfleger, ein Häftling, den wir „Dziadzia Jasza” [russisch: Onkel Jasza] nannten, sagte mir, dass es „Phlegmone“ sei. Laut Gerüchten im Revier machten Nazi‐Ärzte gerade Experimente in Bezug auf diese Krankheit.

Alle Kranken, die mit mir im Raum waren, hatten ähnliche eitrige Wunden. Es fehlte an Platz, so lagen wir zu dritt, zu viert auf einer Pritsche. Von Einschlafen konnte überhaupt keine Rede sein, weil der Eine den Anderen ständig verletzte. Eine zusätzliche Plage waren Läuse. Wir lagen nackt, ohne Unterwäsche, nur mit einer Decke zugedeckt. Unter unsere Verbände, die aus Papier gewickelt waren, gelangte Ungeziefer, so quälte uns neben Schmerzen auch Juckreiz. Die Sterberate kranker Häftlinge war sehr hoch. Es starben einige Häftlinge, die mit mir im Bett lagen, auf die Plätze warteten schon die nächsten Kranken. Unter solchen Umständen lag ich bis zu den ersten Apriltagen im Revier, als das Lager evakuiert wurde.

In der Nacht vor der Evakuierung schlief niemand. Funktionshäftlinge liefen aufgeregt hin und her. Laut Gerüchten sollten die gesunden Häftlinge zu Fuß nach Mauthausen gehen, die Kranken dagegen sollten vernichtet werden. Unter den Kranken im Revier brach Panik aus. So ging es bis zur Morgendämmerung.

Morgens kamen LKWs (angeblich gab es auch Pferdewagen) auf das Lagergelände und man fing an, die kranken Häftlinge darauf zu laden. Dann wurden wir zur Bahnstation in Melk gebracht, wo ein Güterwagen stand. Häftlinge, die laufen konnten, stiegen selbständig in den Waggon ein. Die anderen Kranken wurden wie Säcke hineingeworfen.

In den verschlossenen Waggons wurden wir zwei Tage und Nächte ohne Essen und Trinken transportiert. Öfters standen wir auf Nebengleisen. Am dritten Tag sehr früh morgens hielt der Zug an der Bahnstation Mauthausen an. Wir wussten immer noch nicht, was man mit uns vorhatte. Die Waggons wurden von bewaffneten Wachmännern (nicht nur SS‐Männer) umstellt und wieder wurden die kranken Häftlinge unter Schreien aus den Waggons auf den Bahnsteig geworfen. Es regnete und es war sehr kalt. Aus unserem Waggon wurden einige nicht mehr lebende Häftlinge geworfen, auch aus den anderen Waggons. Von der Station wurden die kranken Häftlinge mit LKWs und Pferdewagen ins Lager gebracht. Aufgrund weniger verfügbarer Transportmittel dauerte der Transport einige Stunden lang. Als Erste fuhren Häftlinge, die sich bewegen konnten ins Lager. Andere Kranke warteten, bis man sie auf einen LKW oder Pferdewagen lud. Nach einigen Stunden auf dem nackten Boden war ich ganz erfroren, ich sah einen bekannten Häftling, der bei der Verladung der Kranken auf einen LKW half. Ich rief kraftlos nach ihm. Der Bekannte trug mich mit einem anderen Häftling zu einem LKW. Nach dem Bad im Waschraum, das bei der Aufnahme ins Lager immer stattfand, wurden die nackten Häftlinge, die noch laufen konnten, zum Revier getrieben. Andere, wie ich, wurden mit einem Vierradkarren von anderen Häftlingen zum Revier gebracht. Die Umstände waren grausam. Im Revier waren einige Tausend Kranke. Kranke Häftlinge kriegten nur die Hälfte der Hungerrationen, die die Häftlinge im Zentrallager kriegten. Auf Pritschen, die für eine Person bestimmt waren, lagen wir zu viert. Ich wurde ganz nach unten gelegt. Neben mir lag der ein Jahr jüngere, d.h. 15‐jährige Józio Rosołowski, dessen älterer Bruder im Lager gestorben war.

Wie ich nach der Befreiung erfuhr, ist es nicht zur Vernichtung der Häftlinge in Melk gekommen. Nachdem die schwer Kranken nach Mauthausen abtransportiert worden waren, führte man die übrigen Kranken zu Fuß zum Zentrallager. Viele haben das Ziel nicht erreicht. Erschöpfte Häftlinge, die nicht mehr imstande waren, weiterzulaufen, wurden von den SS‐Männern getötet. Die im Lager verbliebenen Häftlinge wurden am 15. April in Eile erst mit einem Güterzug, dann mit einem Schiff auf der Donau nach Linz und dort in das Lager in Ebensee transportiert.

Eines Tages (das genaue Datum weiß ich nicht mehr) starb einer der Häftlinge, der mit uns auf der Pritsche lagen. Wir haben es dem Pfleger nicht mitgeteilt, so konnten wir eine zusätzliche Nahrungsration kriegen, die wir unter uns teilten. Der schreckliche Hunger wog stärker als die Tatsache, dass eine Leiche neben uns lag. Das dauerte ca. drei Tage lang.

Gegen Mitte April verbreitete sich im Revier die Nachricht, dass einige der kranken Häftlinge ins Zentrallager abtransportiert werden, wo sie größere Essenrationen kriegen sollten, damit sich ihr Gesundheitszustand verbessere. Das war ein Hoffnungsschimmer für uns. Wir hofften, doch bis zur Befreiung überleben zu können, umso mehr, da wir wussten, dass sich dem Lager von einer Seite russische Truppen, von der anderen Amerikaner näherten. Unser Pfleger war ein Pole aus Warschau – ein alter Häftling, dessen Nummer nur wenig größer als zweitausend war. Ich erinnere mich noch, dass er vor seiner Verhaftung in der Wspólna Straße wohnte. Den Namen weiß ich leider nicht mehr. Das Revier, in dem ich war, befand sich unter dem Zentrallager. In der Zeit, in der man den Transport einiger Häftlinge „nach oben“ (ins Zentrallager) ankündigte, kam unser Pfleger zu uns und sagte mir und Józio Rosołowski, dass wir uns nicht melden sollen, wenn man unsere Nummern zum Transport zwecks besserer „Ernährung“ nennt. Er sagte uns auch, dass er unsere Nummern gegen die Nummern toter Franzosen getauscht hatte. Diese Information sowie die Tatsache, dass beim Umzug der Kranken aus dem Revier die Blöcke von SS‐Männern umstellt waren, zeugten von einem anderen Zweck des Umzugs als einer besseren Ernährung für die kranken Häftlinge. Erst nach der Befreiung erfuhren wir, dass die Mitte April aus dem Revier geholten Häftlinge vergast worden waren.

[…] Das Lager Mauthausen wurde am Vormittag des 5. Mai 1945 durch die amerikanische Armee befreit. Vom 5. bis zum 7. Mai regierten nationale Häftlingskomitees im Lager. Erst am 7. Mai übernahmen amerikanische Truppen die Führung. Sofort wurde medizinische Hilfe organisiert. Schwerkranke wurden zum Zentrallager gebracht, wo im Block Nummer 130 das Krankenhaus der amerikanischen Armee eingerichtet wurde. An diesem Tag wurde ich auf einer Trage mit einem Sanitätswagen des Amerikanischen Roten Kreuzes gefahren. Ich war extrem erschöpft, ich konnte nicht mal selbständig essen. Bei einer Körpergröße von ca. 174 cm war ich nur 34 kg schwer. Ich wurde u.a. von zwei Kollegen im Revier gefüttert, die sich selbständig bewegen konnten: Zbyszek Wąsowicz, mit dem ich seit meiner Geburt in einem Haus in der Zakroczymska Straße 1 gewohnt hatte und mit dem ich in Warschau gefangen genommen worden war; und Zdzisław Piskorek, mit dem ich im Warschauer Aufstand gekämpft hatte und den ich erst im Revier in Mauthausen wieder traf.

Am 9. Mai 1945 hatte ich eine Bluttransfusion und eine Beinoperation. Das Bein wurde an fünf Stellen operiert, indem Drains eingeführt wurden. Neben der Phlegmone wurde bei mir eine Beschädigung des rechten Auges (0,1 Sicht) und eine akute Entzündung des Brustfells mit Erguss festgestellt, daher hatte ich bis Anfang Juni über 39oC Fieber und man musste mir aus der rechten Lunge Wasser abführen. Mein Leben verdanke ich nur dieser sehr intensiven Therapie […].

Ich blieb bis Mitte Juli 1945 im Krankenhaus, d.h. bis zur Okkupation dieses Teils Österreichs durch russische Truppen infolge der Festlegung der Demarkationslinie an dem Donau‐Ufer, an dem Mauthausen lag. Nach dem Aufwachen mussten wir feststellen, dass das amerikanische Personal nicht mehr da war, und das stattdessen russische Soldaten im Krankenhaus waren. An diesem Tag wurden aus der umliegenden Gegend Pferdewägen geholt und zig Kranke wurden einige Kilometer weiter ins Dorf Katzdorf gebracht. Dort wurden wir in einem einstöckigen Gebäude untergebracht, in dem früher ältere Personen gewohnt hatten. Die Lage der Kranken änderte sich vollkommen. Wir blieben ohne ärztliche Hilfe und ohne normale Ernährung. Zum Frühstück und zum Abendessen kriegten wir ein wenig Vollkornbrot, ein Stück Margarine und Marmelade, manchmal einige Scheiben Wurst. Zu Mittag aßen wir ein bisschen Suppe und Kartoffeln mit Schalen. Unser „Betreuer” war ein russischer Soldat, ein Feldwebel, der alle paar Tage von Mauthausen kam, wo auf dem Lagergelände russische Truppen stationiert waren. Unter den Kranken war ein Arzt, Dr. Wartanowicz, ein Pole jüdischer Herkunft, der aus dem Krankenhaus in Mauthausen verschiedene Arzneimittel mitgenommen hatte, so konnte er den Bedürftigen helfen. Es waren auch noch zwei österreichische Krankenschwestern dabei.

Mitte August wurde ein Transport nach Polen angekündigt. Obwohl ich mich auch mit Krücken nur schwer bewegen konnte, meldete ich den Wunsch an, nach Polen zurückzukehren. Am 18. oder 19. August (das genaue Datum weiß ich nicht) kamen drei Traktoren mit Anhängern, auf denen Bretter zum Sitzen eingebaut waren. Jeder, der nach Polen fahren wollte, kriegte ein halbes Kilo Vollkornbrot, ein Viertelstück Margarine und ca. 150 Gramm Wurst. Die Traktoren brachten uns zum Bahnhof Amstetten, wo wir in zwei leere Güterwagen einstiegen. In die Heimat zurück kehrte ich mit Krücken, einer ernsthaften Sehnenkontraktur unter dem rechten Knie, einem Verband am rechten Fuß, ohne den rechten Schuh, im Häftlingsanzug, einer alten wattierten Jacke und mit einer zu kleinen Ballonmütze, obwohl es mitten im Sommer war. Mein ganzer Besitz war eine Decke, die ich aus dem Krankenhaus in Mauthausen mitgenommen hatte, sowie ein Pappkarton mit Verbandsstoff, unwichtigen Kleinigkeiten und meiner Patientenkarteikarte aus dem amerikanischen Krankenhaus.

Der Weg in die Heimat war sehr schwer. Die ersten paar Tage fuhren wir mit offenen Güterwaggons, die öfters auf Nebengleise gestellt, inmitten von Feldern angehalten oder an andere Zügen angekuppelt wurden. Essen mussten wir auf eigene Faust organisieren. Da ich mich kaum bewegen konnte, war ich auf meine Mitgenossen angewiesen. Erst in Bratislava wurden für die aus dem Lager zurückkehrenden Polen Personenwaggons bereitgestellt. Wir kamen zum Grenzpunkt in Petrovice. Dort stiegen wir in polnische Waggons ein und kamen nach Dziedzice. Die Reise bis zur Repatriierungsstelle in Dziedzice dauerte sechs Tage.

In Dziedzice wurde ich mit anderen Schwerkranken in einer Einrichtung des Polnischen Roten Kreuzes untergebracht. Nach einigen Nächten auf den Brettern des Güterwaggons durfte ich eine Nacht in einem Bett mit Bettwäsche schlafen und normal essen. Da sich hier schwerkranke Menschen befanden, die nicht persönlich zum Repatriierungsbüro gehen konnten, wurden die Repatriierungsformalitäten an Ort und Stelle geregelt. Ein Beamter mit einem Fotografen kamen zu der Einrichtung und es wurden die notwendigen Dokumente ausgestellt. ich wollte möglichst schnell zu meiner Familie fahren. Ich war noch sehr schwach, obwohl ich inzwischen schon bis auf 42 kg zugenommen hatte. Ich erhielt eine Bescheinigung für die kostenlose Reise zu meiner Familie in der Nähe von Dęblin und 100 Zloty Beihilfe, für die man damals höchstens einige Zigarettenschachteln kaufen konnte.

Ich beschloss schon am nächsten Tag zu meiner Familie in der Nähe von Dęblin zu fahren. Ich hoffte, dort meine Mama und Geschwister zu treffen, weil wir im Lager Gerüchte gehört hatten, dass Mütter mit Kleinkindern und ältere Menschen aus Pruszków in das Generalgouvernement deportiert worden waren, in der Regel in die ehemalige Krakauer Woiwodschaft. Zu der Zeit, als ich nach Polen kam, galten keine Zugfahrpläne und die Züge waren so überfüllt, dass während der Fahrt Leute sogar auf den Dächern und auf den Stufen, die zu den Waggons führten, saßen. Aus Dziedzice fuhr ich mit einem Zug nach Posen und musste in Koluszki in einen Zug nach Lublin, über Radom und Dęblin umsteigen. In Koluszki wartete eine große Menschenmenge auf Züge in unterschiedliche Richtungen, weil dort ein Verkehrsknotenpunkt war. Man konnte keinen freien Platz im Warteraum finden, also setzte ich mich auf den Boden und lehnte mich an eine Wand an. Wie ich schon erwähnt habe, war ich sehr schwach, mit Muskelschwund und konnte nicht mal aufstehen. Ich schämte mich jedoch, um Hilfe zu bitten, so saß ich mehrere Stunden lang, ohne etwas essen oder die Toilette nutzen zu können. Ein Ehepaar mittleren Alters beobachtete mich und begann ein Gespräch mit mir. Als sie erfuhren, dass ich aus dem Konzentrationslager zurückgekehrt war, boten sie mir eine Suppe aus der Zugkantine an. Nachdem der Zug in Lublin angekommen war, halfen sie mir, auf einer Waggonstufe Platz zu nehmen. Nach einiger Zeit, vielleicht nach einer Stunde oder mehr, wurden wir auf Bitte der neben mir stehenden Passagiere in das durch russische Soldaten besetzte Abteil eingelassen.

Je näher das Ziel meiner Reise war, desto mehr machte ich mir Sorgen um meine Familienmitglieder. Seit dem Aufstand hatte ich keine Nachricht von ihnen erhalten.

Die Reise war lang, mit vielen Pausen auf Feldern und in Wäldern, und ich war sehr hungrig. So gelangte ich nach mehreren Stunden nach Zajezierze – eine Station von Dęblin entfernt.

Meine Rückkehr in mein Heimatland war leider nicht glücklich. Da mein Aussehen damals schon nicht mehr üblich war, fragte mich der Bahnhofsvorsteher interessiert, wer ich bin und zu wem ich fahre. Ich habe von ihm erfahren, dass meine vier nächsten Verwandten tot waren. Diese tragische Nachricht bedrückte mich sehr. Als ich das Haus meiner Großeltern erreichte, konnte mich die Mutter meiner Mutter, die mich ein Jahr lang nicht gesehen hatte, selbst aus wenigen Metern Entfernung nicht mehr erkennen, so schrecklich sah ich aus. Ich erfuhr, was am 31. August 1944 passiert war, nachdem ich mich von meiner Mama und meinen jüngeren Schwestern in der Stawki Straße in Warschau getrennt hatte. Die Deutschen holten aus der Menschenkolonne, in der meine Mutter und Schwestern standen, eine große Gruppe alter, kranker Personen, auch Kinder, und kündigten an, diese mit Autos in ein Lager in Pruszków zu bringen. Erst nach der Befreiung stellte sich heraus, dass alle auf einem Fabrikgelände in der Okopowa Straße ermordet wurden. Unter diesen Menschen war meine Mama Anna, damals 44 Jahre alt und meine viereinhalb ‐ und zwölfjährigen Schwestern Basia und Wandeczka.

Die Deutschen ermordeten auch meine nächsten Nachbarn […]. Fast alle übrigen Nachbarn wurden in Konzentrationslager gebracht, wo viele von ihnen umgebracht wurden. […] Die Frauen wurden ins Konzentrationslager in Ravensbrück abtransportiert. Zu dieser Gruppe gehörte auch meine 19‐jährige, ältere Schwester Maria. […]Ich erfuhr auch, dass mein älterer Bruder Wacław am 10. September 1944 beim Warschauer Aufstand auf dem Platz der Drei Kreuze [Plac Trzech Krzyży] umgekommen war. Nur mein Vater kam nicht ins Konzentrationslager, weil er sich beim Ausbruch des Aufstandes in der Nähe der Złota Straße befand und nicht mehr zurück nach Hause in die Altstadt konnte. Nach dem Aufstand wurde er in die Gegend um Opoczno gebracht […].