ANTONI GÓRSKI
Sklavenarbeit in Deutschland
Der Autor wurde 1942 aus der Gegend von Krzemieniec (Kremenez) zur Zwangsarbeit in die Bahn‐Ausbesserungswerke nach Bremen‐Hemelingen deportiert. Zum Zeitpunkt der beschriebenen Ereignisse war er etwa 23 Jahre alt.

Mitte 1944 wurde ich angewiesen, mich bei der Bremer Polizei zu melden. Ich arbeitete damals in der Nachtschicht. Ich wusch mich gründlich, zog mich an und fuhr los. Der zuständige Beamte teilte mir mit, dass ich wegen unerlaubten Verlassens des Lagers und Handelns mit Lebensmittelkarten angeklagt wurde. Die Anschuldigungen stimmten. Tatsächlich wohnte ich in einem abgeschlossenen, von Wachposten bewachten Lager, ohne Recht auf Ausgang in die Stadt. […]

Ich wurde in den Hof, in eine hölzerne Baracke geführt und dort in eine Zelle eingesperrt. […] Das war eine Zelle mit einer Fläche von ca. 10 Quadratmetern, in einer provisorischen Holzbaracke. Die Hälfte der Fläche nahm eine Holzpritsche ein, die ca. 70 cm hoch war. Abgesehen davon gab es keine anderen Gegenstände. Zum Abort ging man nach Aufforderung. Zweimal täglich gab es eine einigermaßen erträgliche Suppe. Schlafen musste man auf der Holzpritsche, wobei man sich mit der eigenen Kleidung zudecken musste. Es sah aus wie in einem abstoßenden Wartesaal auf einem Bahnhof in einem öden Nest. Wir saßen dort zu viert – zwei Polen und zwei Russen. Ich verbrachte dort volle sieben Tage. Am sechsten Tag kam ein Mann und las im Korridor mein Urteil vor. Es wurde festgestellt, dass ich illegal eingekauft hätte, was als kaufmännische Spekulation betrachtet wurde und ich wurde zu sechs Wochen im Straflager in Farge (Arbeitserziehungslager Bremen‐Farge) verurteilt. Das Wort Farge klang grauenerregend und war mir seit dem Beginn meines Aufenthaltes in Bremen bekannt. Ich hatte zweimal Häftlinge gesehen, die aus diesem Lager zurückkamen. Sie waren laufende Gerippe gewesen. Jeder, der aus diesem Lager zurückgekommen war, wog grundsätzlich weniger als 40 Kilogramm. Wir wurden dorthin in einem Konvoi von sechs Personen, paarweise mit Handschellen, gebracht. Farge ist eine kleine Ortschaft an der Weser, zirka 40 Kilometer nördlich von Bremens Zentrum. Für die Dauer der Reise gab man uns Geld und unsere Dokumente zurück. Mir war es gelungen, das Geld aus der Börse herauszunehmen und es in einer Socke zu verstecken. In der Börse blieben nur 100 Mark. Ich wurde mit einem russischen Gefangenen, einem jungen Burschen, gefesselt, der bis dahin bei der Bedienung einer Flugabwehrkanone beschäftigt war. Das war ein sehr solider Junge. Ich verbrachte mit ihm die vollen sechs Wochen in diesem Straflager. Ihm wurde nicht gesagt, zu welcher Dauer er verurteilt worden war; der Mehrheit der Gefangenen in diesem Lager ging es so. Am späten Nachmittag kamen wir ins Lager, das auf freiem Feld errichtet worden war, mindestens zwei Kilometer von der nächsten Siedlung entfernt. Wir mussten die Nacht in der Wäscherei verbringen, auf Beton, dicht aneinandergedrängt, weil die Wäscherei ungeheizt war und es eine Woche vor Weihnachten war. Am Abend war es mir gelungen, mit einem Russen aus unserer Fabrik Kontakt aufzunehmen, der hier seit drei Wochen inhaftiert war. Ich warf ihm meine Anzugsjacke zu. Am Morgen begann das echte Golgatha. Zuerst mussten wir uns nackt ausziehen und unsere Sachen zur Desinfektion abgeben. Dann erwartete uns ein Bad, aber ohne Eile. Als das Wasser endlich zu laufen begann, war es entweder ungeheuer heiß oder lauwarm oder eiskalt. Dieser Bad‐Zirkus ohne Seife dauerte fast eine Stunde, das heißt so lange, wie das Entlausen unserer Kleidung dauerte. Dann befahl man uns, unsere Kleidung unter den Arm zu nehmen und in die andere Baracke, ins Kleidungslager zu gehen, wo wir unsere eigene Kleidung abgeben und die Lagerkleidung anziehen mussten. Im Korridor der zweiten Baracke mit weit geöffneten Türen, musste man nackt für den Kleidungswechsel Schlange stehen, ohne sich bedecken zu dürfen und mit der eigenen, entlausten Kleidung in der Hand, weil man für Ungehorsam sofort eins auf die Schnauze kriegen konnte. Der Kleidungswechsel dauerte durchschnittlich eine halbe Stunde für jeden Inhaftierten. Ich bekam eine grüne Hose, wahrscheinlich von einem früheren Gefangenen, Unterwäsche und eine Häftlingsanzugsjacke ohne Unterfutter. Man durfte seine eigenen Schuhe behalten, weil es im Lager an Schuhen mangelte. Es gab noch ein persönliches Gespräch mit dem Lagerführer, einem Riesen in schwarzer SS‐Uniform, der einem bei einer unbefriedigenden Antwort oder wenn das Aussehen eines Gefangenen nicht seinem Geschmack entsprach, sofort ins Gesicht schlug.

Nach der genauen Registrierung hatte man uns mitgeteilt, dass für die Aufenthaltsdauer im Lager die Häftlinge nicht mehr mit ihren Namen, sondern lediglich mittels Nummern identifiziert werden. Ich bekam die Nummer 12804 und unter dieser Nummer war ich über die ganzen sechs Wochen im Lager bekannt. Um Fluchtversuche der Gefangenen aus dem Lager zu verhindern, wurde jeder neu Verhafteten gekennzeichnet, indem man ihm die Haare abrasierte, in einem fünf Zentimeter breiten Streifen von der Stirn aus bis zum Hinterkopf. Gegen 16 Uhr wurden wir in die Wohnbaracke gelassen, aber erst um 18 Uhr, als alle von der Arbeit gekommen waren, bekamen wir eine Suppe. Ich war nach dem einwöchigen Aufenthalt im Arrest in Bremen, wo man schlecht, aber immerhin ein bisschen zu essen bekam und nach zwei Tagen Transport ohne Essen. Die servierte Kohlrübensuppe stank so sehr, dass ich sie an diesem ersten Tag im Lager nicht einmal anrührte. Die Wohnbaracke hatte einen fast zweieinhalb Meter breiten Korridor und mindestens vierzig Quadratmeter große Säle. In diesen Sälen standen ziemlich breite, dreistöckige, hölzerne Betten mit Matratzen, aber ohne Bettzeug. Es waren wohl sechzehn Betten. In der Mitte des Saales stand ein eiserner Ofen mit einem Durchmesser von etwa 50 und einer Höhe von 150 Zentimetern. Im Ofen wurde solange geheizt bis der Brennstoff, den die Bewohner am Arbeitsort besorgt hatten, aufgebraucht war. Es wurde also gewöhnlich eine Stunde, manchmal auch kürzer geheizt. […]

Die Baracke war in der Nacht dicht verschlossen und im Korridor wurden einige Zuber aufgestellt, damit man seine Notdurft verrichten konnte. Am Morgen floss der Brei dann neben den Zubern. Zur Reinigung der Korridore wurden die „Muselmänner” beschäftigt, das heißt solche Häftlinge, die nicht mehr imstande waren, außerhalb des Lagers zur Arbeit zu gehen und hier ihre letzte Tage erlebten. Der Tag begann mit einem Weckruf um 5 Uhr morgens. Fünfzehn Minuten später wurden wir vor der Baracke in drei Reihen stehend durch einen vorgelesenen Befehl darüber informiert, zu welcher Arbeit jeder von uns an diesem Tag zugeteilt wurde. Die aufgerufenen Nummern traten aus der Reihe und bildeten eine Brigade. Dann gingen wir essen. Wir bekamen zirka einen Liter in Wasser gekochte Kohlrübe ohne Fett oder Zusatz von Gemüse. Nach diesem Frühstück, das einige Minuten dauerte, ging jede Brigade unter der Aufsicht eines SS‐Mannes an die Arbeit. Die ersten fünf oder sechs Tage lang war ich einer Brigade, die aus vier Männern bestand und für das Kohleausladen von Schiffen im Hafen Blumenthal, der nicht mehr als fünf Kilometer von Farge entfernt war, zugeteilt. Das war sehr schwere, harte Arbeit. Wir wurden zum Schiff und in den mit Kohle gefüllten Laderaum geführt und sollten das mechanische Ausladen verbessern oder eher beschleunigen. Der Laderaum war etwa acht Meter breit und lang und nicht weniger hoch. […] In der nächsten Woche wurde ich in ein Kommando eingegliedert, das aus hundert Personen bestand und beim Bau einer Abschussrampe für V‐2 Raketen eingesetzt war. An diesem Bau blieb ich bis zum Ende meines Aufenthaltes in Farge. Der Bau der Abschussrampe fand im Wald statt, mindestens zehn Kilometer von unserem Lager entfernt. Die ganze Hundertpersonenkolonne lief zu Fuß drei Kilometer zum Bahnhof, dort stiegen wir in einen speziell für uns bereitgestellten Waggon ein, fuhren zwei Haltestellen und gingen dann wieder mindestens drei Kilometer zu Fuß in den Wald, zum Bau der Abschussrampe. Die ganze Reise dauerte in eine Richtung ungefähr eineinhalb Stunden. Die Kolonne führte einer der Wachmänner an, gleich hinter ihm trugen vier Häftlinge mit zwei Stangen eine Kiste mit Proviant für das Mittagessen. Darin waren Schwarzbrot, zwei cm dicke Scheiben, eine für jede Person, 20 Gramm Margarine pro Kopf und drei oder vier Kilogramm Malzkaffe, aus dem für uns in einem Hundertliterkessel warme Speisen zubereitet wurden. Während der halbstündigen Pause musste man sich auf den Kessel mit dem Kaffee stürzen und immer irgendwelche alten Büchsen für den Kaffe bei der Hand haben. Brot mit Margarine war garantiert. Trotz des mühseligen Transports hatte die Arbeit an diesem Bau ihre Vorteile, weil man in einer so großen Gruppe das Schaufeln, sogar in unmittelbarer Nähe des Wachmanns, vortäuschen konnte. Es gab aber auch Nachteile. Auf dem Bau arbeiteten neben den Häftlingen italienische Gefangene aus der sogenannten „Badoglio”‐ Gruppe und eine kleine Gruppe von Deutschen. Das Lager war bewacht, aber der Wald bot Gelegenheit zum Fliehen. Während meiner dreißigtägigen Arbeit an diesem Bau wurden vier Fluchtversuche unternommen. Einmal bat einer der Gefangenen um Erlaubnis, in den Graben zu gehen, um seine Notdurft zu verrichten. Aus diesem Graben begann er zu fliehen. Das wurde sofort bemerkt. Der dumme Kerl lief, statt in den Wald zu fliehen, auf einen waldlosen Hügel zu. Die Wachmänner begannen mit Freude wie auf Jagdwild zu schießen. Er war nicht weit, vielleicht 100 Meter entfernt. Er wurde schon durch den fünften oder sechsten Schuss getötet. Der andere Gefangene wurde bei einem Fluchtversuch bemerkt und mit Schreien zur Rückkehr aufgefordert. Er verzichtete auf seine Flucht und kam tatsächlich zurück. Schon im Wald wurde er gequält und im Lager für eine Woche im Bunker eingesperrt. In zwei anderen Fällen war, wenigsten hier am Bau, die Flucht gelungen.

[…]. Eines Tages am Morgen spürte ich, dass ich Fieber hatte. Ich meldete es dem Wachmann, aber er lehnte meine Meldung ab, weil er meinte, dass ich mich am Abend beim Arzt melden sollte. Als ich wiederholte, dass ich krank sei, bekam ich einen Schlag ins Gesicht und fiel in den Schnee. Ich stand sofort auf, weil ich mir bewusst war, was es bedeuten könnte, weiter krank zu sein. Der Wachmann gab nicht nach. Er befahl, dass ich als einer von vier die Kiste mit Essen tragen sollte. Diese Strafe hat mich gerettet. Die anderen drei trugen nicht nur die Kiste, sondern auch mich, der sich mit den Händen an den Stangen festhielt. Ich wusste was es bedeutete, krank zu sein. In diesem Lager bedeutete es mindestens in neun von zehn Fällen den Tod. […] Ich zwang mich zu all der psychischen Disziplin, zu der ich damals im Stande war. Und ich konnte viel leisten, ich war doch nicht einmal 23 Jahre alt. Außer Fieber, das mit der Grippe verbunden war, kriegte ich Durchfall. Ich konnte nichts essen, weil sogar ein kleines Stück Brot oder ein Schluck Suppe gezwungene Stuhlentleerung verursachte. Das war gefährlich. Ein Russe riet mir, ich solle mich über den Malzkaffeesatz hermachen. […] Ich aß diesen Kaffeesatz drei Tage lang und wurde gesund. Ich hatte einen Vorteil gegenüber den meisten anderen Gefangenen, weil ich wusste, für welche Zeit ich verurteilt worden war und so konnte ich jeden Tag die noch verbleibenden Tage zählen. Endlich kam der letzte Tag und während des Morgenappells sagte man mir, dass Nummer 12804 heute nach Hause gehen könne. Ich ging nicht zur Arbeit, aber ich wurde auch nicht am Morgen freigelassen. Mit den sich noch bewegenden „Muselmännern” wurde ich dazu angetrieben, die Kohlrüben aus der Lagergrube herauszuholen. Die Grube war ziemlich groß, sie bot Platz für mehrere Tonnen. Wir sollten jede einzelne Kohlrübe von Erde befreien, in Körbe laden und in einen Wagen bringen. Die Arbeit war nicht schwer, aber psychisch nicht einfach, denn wie kann man so etwas tragen, reinigen und dabei nicht auch ein Stück anbeißen. Der Wachmann schrie drohend, aber die schrien ohnehin den ganzen Tag lang. Einen hat er doch gesehen, rief ihn aus der Grube heraus, nahm eine von den größeren Kohlrüben, steckte diese dem Ertappten in den Mund und ließ ihn in Habachtstellung stehen. Das schreckte die anderen Halbverhungerten jedoch nicht davon ab, es schreckte auch mich nicht ab. Ich wurde beim Annagen einer Kohlrübe erwischt und auch mir steckte man eine große Kohlrübe in den Mund. Ich stand mit der Kohlrübe im Mund fast eine Stunde lang da und es war eine der schlimmsten Folterungen, die ich erlebt habe. Am Nachmittag dieses Tages bekam ich meine Dokumente und Kleidung zurück und wurde zum Bahnhof gebracht. Als ich zum Hauptbahnhof Bremen kam, ging ich mich wiegen. Ich wog 38 Kilogramm, was bedeutete, dass ich in dem Straflager während der sechs Wochen 32 Kilogramm verloren hatte, d.h. 46% meines normalen Gewichts. In der Nähe vom Bahnhof gab es eine kleine Gaststätte, wo manchmal Gerichte ohne Lebensmittelkarten serviert wurden. Ich ging dorthin. Man brachte Kohlrübensuppe. Ich probierte sie und trotz des Hungers habe ich sie nicht herunterbekommen.