FRANCISZKA TWARDOWSKA
Erinnerungen
Die Familie der Autorin kam aus Kleinpolen. Nachdem sie durch Brand und Überschwemmung nacheinander zwei Häuser verloren hatten, beschlossen die Eltern nach Hinterpommern zu ziehen, wo sie im Rahmen der Vorkriegs‐Agrarreform Boden erhielten. Zum Zeitpunkt der beschriebenen Ereignisse war Franciszka 4 Jahre alt.

[…] Es war der 23. November 1941. In unser Dorf kamen SS‐Männer in schwarzen und gelben Uniformen. Sie ließen uns packen und verschleppten uns in der Nacht zum Lager der Umwandererzentralstelle in Toruń (Thorn). Meine Mutter war schwanger, ihr ging es sehr schlecht, mein Vater dagegen war an Asthma erkrankt und hatte eine Hernie. Es begannen für uns Elends‐ und Hungerjahre, jede Nacht starben viele Menschen, die solche Umstände nicht ertragen konnten. Wir wohnten in einem Gebäude in dem unten ein Stall war. Dort waren Pferde auf denen Leute ins Lager geritten sind. Oben wohnten Menschen. Es gab keine Pritschen, wir haben auf dem Zement und Strohsäcken geschlafen, je nachdem, was jeder hatte oder mitnehmen konnte. Jede Nacht mussten wir die Ausdünstungen des Pferdemists einatmen, das war furchtbar. Leute starben und man schlief stundenlang neben ihnen, ohne etwas zu bemerken.

In meiner Familie war auch die Hölle los. Zuerst erkrankte meine Mutti an Ruhr. Das war eine schreckliche Krankheit, ausgelöst durch Schmutz und schlechtes Essen. Die Deutschen brachten sie ins Lagerkrankenhaus. Wir weinten sehr um sie, aber wir mussten beim Vati bleiben, der sich kaum auf den Beinen halten konnte, weil auch er krank geworden war. In dieser Zeit wurde meine ältere Schwester, die sich um uns jüngere Kinder kümmerte, zur Zwangsarbeit verwiesen. Meine Mutti überwand die Krankheit und kam nach einem Monat zurück ins Lager. Ich war damals fünf Jahre alt, mein jüngster Bruder war zwei Jahre alt. Er litt am stärksten unter dem Milchmangel und Hunger. Meine Mutti tat alles Mögliche, um uns am Leben zu erhalten. Sie beschloss aus dem Lager in ihre Heimat zu fliehen, um Brot, Schmalz und Marmelade zu holen. Es fehlte uns auch an Waschmittel. Wir planten die Flucht unserer Mutter. Mein älterer Bruder Bronisław machte eine Öffnung im Zaun indem er den Draht verbog. Er arbeitete daran, wenn sich der Wachmann entfernte und in die entgegengesetzte Richtung lief. Die Öffnung deckte mein Bruder mit Ästen zu. An einem nebligen Tag, in aller Frühe, als die Leute im Lager schliefen, flüchtete meine Mutti aus dem Lager. Niemand bemerkte, dass eine Person fehlte. Meine Mutti traf schnell am Bahnhof ein und kam bis nach Kornatowo, weiter ging sie zu Fuß. Sie lief vier Kilometer zum Dorf, wo sie gute Bekannte hatte. Diese waren sehr überrascht, dass sie eine Person aus dem Lager sahen. Sie hatte eine Wunde am Bein, weil sie sich beim Durchschlüpfen durch die Öffnung verletzt hatte. Sie verband die Wunde mit einem Tuch. Ein Bekannter, der Apotheker war, machte einen Verband, weil es eine ernsthafte Verletzung war. Er gab meiner Mutter Medikamente für sie selbst und die Familie im Lager sowie Geld. Andere Leute, die eine Mühle und Bäckerei hatten, gaben ihr Brot, andere gaben ihr einen kleinen Eimer mit Marmelade, wieder andere gute Leute gaben ihr Speck, Schmalz und Wurst. Kurz gesagt hatte sie sehr viel und konnte es kaum tragen, sie musste jedoch in der Nacht ins Lager zurück, weil sie es so mit der Familie ausgemacht hatte. Abends wurden die Menschen im Lager auch gezählt. Es war schon sehr dunkel, der Mond zeigte sich hinter den Wolken, und wir hielten am Drahtzaun Ausschau nach unserer Mutti. Wir zitterten alle vor Angst, weil der Wachmann an der Öffnung hin und her ging. Endlich sahen wir, dass jemand kam. In diesem Moment ging der Wachmann weg. Die Mutti warf das Gepäck schnell über den Zaun, sie hatte jedoch keine Kraft mehr, selbst durch die Öffnung zu schlüpfen. Sie war so müde, erschöpft und erschrocken.

Meine Brüder, der vierzehnjährige Bronisław und der zwölfjährige Franciszek haben sie durch die Öffnung gezogen und danach in den Waschraum geschleppt, wo sie vor Erschöpfung ohnmächtig wurde. Nach einiger Zeit kam sie wieder zu sich und war glücklich, dass wir alle wieder zusammen waren. Das, was sie mit sich gebracht hatte, teilte sie mit vielen Personen, weil alle hungrig waren. Damals war sie noch schwanger, aber nach der Entbindung flüchtete sie noch ein paar Mal aus dem Lager und wurde ‐ Gott sei Dank ‐ nie ertappt, weil dafür die Todesstrafe drohte. Mein Bruder, der im Lager zur Welt kam, hieß Eugeniusz. Meine Mutti gab ihm die Brust und trocknete im Winter mit ihrem eigenem Körper die aus Bettlaken gemachten Windeln. Im Winter wurden die Windeln draußen nicht trocken und im Raum durfte man keine aufhängen. Außerdem war es überall kalt, weil nicht geheizt wurde. Der kleine Eugeniusz wurde an den Ohren krank, als er ein Jahr alt war, weil es überall Luftzug gab (man konnte im Mief nicht schlafen und ständig wurden Fenster geöffnet). Vorher war auch mein Vater krank geworden und war in dem Krankenhaus, in das auch mein Bruder gebracht wurde. Im Lager blieben wir zu viert mit meiner Mutti. Meine Schwester Karolina arbeitete in der Gärtnerei, mein Bruder Bronisław fegte Straßen mit anderen Jungen. Sie gingen jeden Tag mit dem Kapo, der sie bewachte und kehrten ins Lager zurück, wenn alles fertig war. Meine Brüder Franciszek, Władysław und ich waren bei unserer Mutti.

[…] Die Situation im Lager Thorn, dem sog. „Szmalcówka”, wurde immer schlechter. Meine Mutti konnte keine „Expeditionen“ mehr riskieren, um Proviant zu holen. Władysław litt immer stärker darunter, dass ihm Milch fehlte, die er als Kind sehr brauchte. Er war durch Hunger geschwächt und starb meiner Mutti im Arm mit den Worten, dass er Milch und Brötchen wolle.

[…] In dieser Zeit erhielten wir einen Zettel vom Vater aus dem Krankenhaus, den der Kapo zustellte. Auf dem Zettel stand geschrieben: „Eugeniusz ist schon gesund – morgen kehrt er zur Familie ins Lager zurück”. Am nächsten Tag durften wir uns jedoch nicht über die Rückkehr unseres Bruders freuen. Wir erhielten die folgende Nachricht: „Okoński Eugeniusz ist tot, er fiel aus dem Fenster”. Diese Nachricht war ein Schock für meine Mutti und alle Geschwister. Vati, der damals noch im Krankenhaus war, sah nicht einmal die Leiche seines Sohnes. Er hatte seinen Sohn öfters heimlich im Kindersaal beobachtet, weil dort polnische Ärzte waren. Mein Vater glaubte nicht an den Tod seines Sohnes. Mein Bruder war nur ein Jahr alt und die Fenster im Krankenhaus waren vergittert. Er konnte noch nicht laufen und nicht sprechen, es war also unmöglich, dass er so starb.

[…] Bronisław verletzte sich bei der Arbeit ein Bein mit der Heugabel. Das Bein tat immer mehr weh, die Wunde öffnete sich, es rann eine Flüssigkeit heraus, das Bein begann einfach zu faulen. Es gab keine Verbandsmittel. Meine Mutti machte sich Sorgen, dachte darüber nach, wie dem abzuhelfen wäre. Der Kapo, der mit den Jungen raus ging, war Pole. Meine Mutter sprach mit ihm die Flucht ihres Sohnes ab und bezahlte ihn sehr gut dafür –sie gab ihm das ganze Geld, das sie hatte. An dem Tag ging Bronek mit den anderen Jungen wie gewöhnlich Straßen fegen. Plötzlich ließ er den Besen fallen und ging weiter geradeaus. Die andere Jungen begannen zu rufen, dass Okoński weglaufe, der Kapo machte sich jedoch nichts daraus. Nach einiger Zeit sagte er zu den Jungen „Das habt ihr euch eingebildet. Er ist sich nur erleichtern gegangen”. Doch mein Bruder kehrte nicht zurück. Er ging zum Bahnhof und fuhr zu der Ortschaft, wo unsere Schwester Marianna arbeitete. Sie beschaffte ihm eine Arbeitsstelle bei einem Bauern, der keine eigenen Kinder hatte und jemanden zur Feldarbeit brauchte. Dem Bauern gefiel mein Bruder sehr, weil er sich mit der Feldarbeit gut auskannte. Er behandelte ihn wie seinen eigenen Sohn, sorgte für sein Bein, mein Bruder hatte es gut bei ihm. Im Lager wurde jedoch sein Verschwinden bemerkt. Man holte meine Mutti zur Gestapo und verhörte sie; fragte: wo ist dein Sohn?

[…] Mein Vater kehrte in der Zwischenzeit aus dem Krankenhaus zurück und dann begann seine Hölle, weil er wegen der Sache mit seinem Sohn Bronisław auch zur Gestapo geholt wurde. Man fragte, wo dieser bleibe und wo in Freiheit wir Familie hätten. Man drohte meinem Vater, dass wir alle nach Auschwitz geschickt werden würden. Mein Vater hatte Angst um uns, auch um den Menschen, der ihm bei der Flucht geholfen hatte. Meine Mutti flehte ihn an, dass er sage, wo sich Bronek aufhielt. Am nächsten Tag sagte mein Vater beim Verhör, wo diese Familie wohnte. Die Gestapo hatte den Aufenthaltsort meines Bruders schnell ausfindig gemacht. Man schickte einen Wachmann mit der Bahn hin. Der nahm ein Fahrrad mit sich, weil das Dorf, wo Bronek war, zehn Kilometer von der Bahn entfernt war. Mein Bruder arbeitete gerade auf dem Feld, er sollte aber sofort damit aufhören. Das Flehen des Bauern, dass er alt und schwach sei und die Hilfe des Jungen brauche, half nichts. Der Wachmann hatte Bronek mit einer Schnur am Fahrrad festgebunden, dann fuhr er und mein Bruder lief hinter dem Fahrrad her wie ein Hund, die ganzen zehn Kilometer lang. Ins Lager kamen sie am Abend, ich sah von Weitem, wie man meinen müden Bruder prügelte. Man warf ihn in einen Keller mit Leichen. In der Tür waren große Spalte, so lief ich zu ihm, als sich der Wachmann entfernte, und schaute rein, um zu sehen, ob er noch lebte. Er saß dort und weinte und ich weinte mit ihm. Er hatte Angst, was man mit ihm am nächsten Tag machen werde. Zum Glück bekam er nur Prügel. Nach einer Woche durfte er den Keller verlassen.[...]

In dieser Zeit brach im Lager Typhus aus, auch ich bekam diese schreckliche Krankheit. Ich hatte so hohes Fieber, dass ich nichts mehr von der Welt mitbekam. Ich weiß nicht, wie ich ins Krankenhaus kam, in dem die Lebensbedingungen zwar schrecklich waren, aber immer noch besser als im Lager. Eines Tages wurde auch mein Bruder Franciszek in dieses Krankenhaus gebracht.

Lager der Umwandererzentralle in Potulitz

In unserem Lager fing man an, Leute auf Transporte in andere Lager vorzubereiten. Bald wurden auch wir weggebracht. Ich kam mit meinen Eltern in das Lager in Potulitz. Das war ein Arbeitslager im Wald, das mit einem Stacheldraht zweifach umzäunt war. Der innere Zaun stand unter Strom. Zwischen den beiden Zäunen ging ein Wachmann. Von einer Flucht konnte keine Rede sein. In der Mitte des Lagergeländes befand sich ein mehrstöckiges Gebäude, in dem unten eine Küche, ein Waschraum und zwei große Gasöfen untergebracht waren. Im ersten Stock befand sich eine Nähstube und höhere Schulklassen. Die Baracken, die wir bewohnten, waren aus Holz. Sie standen eine neben der anderen in kleinen Abständen, es gab sehr viele davon. Unsere Baracke war für Familien, eine andere für alleinstehende Frauen, Männer oder Kinder, die alleine waren. Im Lager Potulitz wohnten verschiedene Nationalitäten: Juden, Roma, Franzosen. Wir schliefen auf Pritschen, auf Strohsäcken. Die Lebensbedingungen waren viel besser als im Lager in Thorn. Jeder musste hier arbeiten, aber keiner kriegte eine Vergütung dafür.

Der Tag, an dem wir in das Lager in Potulitz gebracht wurden, war heiter. Es gab eine lange Schlange zum Haareschneiden, weil alle verlaust waren. Meine Mutti hatte wunderschöne Haare und es tat ihr weh, diese abschneiden zu lassen, daher beschloss sie, den Lagerkommandanten zu bitten, dass er ihr erlaube, die Haare zu behalten. Meine Mutti hatte kein Ungeziefer am Kopf, sie weinte sehr, kniete vor dem Kommandanten und bat um seine Gnade. Wir waren sehr überrascht als er ihr erlaubte, ihre Haare zu behalten, wenn sie diese nur ein bisschen kürzen ließe, weil sie einen langen Zopf hatte. Alle im Lager trugen Kopftücher, weil sie keine Haare mehr hatten.

Danach wurden wir in den Waschraum geführt, wo wir uns gründlich waschen sollten, unsere Kleidung wurde in Gasöfen geworfen, um Ungeziefer aus dem Umsiedlungslager, wo die Lebensbedingungen grauenhaft gewesen waren, zu beseitigen. Uns wurde die Baracke Nr. 15 zugeordnet, wo sehr viele Leute wohnten, trotzdem waren wir glücklich, dass wir auf Pritschen mit Stroh, und nicht auf Zement, schlafen durften. Da es ein Arbeitslager war wurde meine Mutti in die Näherei und mein Vater in die Küche geschickt. Er heizte und transportierte Kartoffeln von Mieten in den Schälraum, dies war eine sehr gute Funktion im Lager. Mein Vater hatte es nicht leicht, doch er freute sich, dass er keine Gräben schaufeln und nicht auf einer Baustelle arbeiten musste. Meine zwei Brüder wurden in die Schuhfabrik in Bydgoszcz geschickt, meine Schwester Karolina arbeitete in der Gärtnerei. Ich blieb bei meinen Eltern, weil ich am jüngsten war. Wenn die Erwachsenen zur Arbeit mussten, wurden alle Kinder in einer Reihe aufgestellt, gezählt und unter Bewachung in den Wald geführt. Ältere Kinder gingen zur Schule, wo sie Deutsch lernten. Kinder, die nicht schnell lernen konnten, wurden geprügelt, hatten angerissene Ohren und angeschwollene Hände. Meine Mutti hörte sie öfters weinen, weil sie einen Stock tiefer arbeitete. Wir Kleinkinder blieben vom frühen Morgen bis zum Abend in dem Wald, auf einem mit Stacheldraht umzäunten Gelände. Wir waren sehr hungrig, öfters aßen wir Gras, um den Hunger zu stillen. Mittags brachte man uns schwarzen Kaffee und erst nach der Rückkehr ins Lager bekamen wir Essen. Das war in der Regel Brennnessel‐ oder Kohlrübensuppe, einem Hungrigen schmeckt jedoch alles. Meinem Vater ist es manchmal gelungen, in der Hosentasche gebratene Kartoffeln mitzubringen – das war für mich ein Leckerbissen, etwas Großartiges und Besseres als Süßigkeiten, die ich nicht kannte.

Ich kannte in der Kindheit nichts von dem, was Kinder in der Freiheit hatten. Drei Jahre lang sah ich keine Milch und kein belegtes Brot, von Süßigkeiten träumte man nicht einmal. Man lebte in ständiger Angst, für jede kleine Verfehlung wurde man geprügelt und auf unterschiedliche Art bestraft. Ich erinnere mich daran, dass einmal ein Mann angewiesen wurde, einen tiefen Graben auszugraben, dann wurde er erschossen. Alle mussten diese Szene mit ansehen, auch wir Kinder.

[…] Auf dem Lagergelände arbeitete man schwer beim Flugzeugbau, bei der Herstellung von Militärschuhen, beim Nähen von Uniformen und Pferdegeschirr oder beim Gemüseanbau. Kinder wurden beim Wechsel von Stroh für die Strohsäcke beschäftigt. Ich musste auch Strohsäcke außerhalb des Lagers schleppen, wo Heumieten waren; dort warf ich das alte Stroh weg und packte neues ein. Es fanden öfters Durchsuchungen statt, weil Leute von ihren Arbeitsstellen unterschiedliche Dinge mitbrachten. Es fehlten Kleidung, Schuhe, Bettwäsche.[…] Jeden Tag fand ein Appell statt, wo Verurteilte aufgerufen wurden. Meine Eltern und ich blieben drei Jahre lang im Lager. Der Befreiungstag kam unerwartet.

Als meine Mutti wie gewöhnlich zur Arbeit ging, sah sie vor dem Tor Verwirrung unter den deutschen Soldaten. Sie setzten sich auf Pferde oder stiegen in Autos und fuhren weg. Das Tor wurde weit geöffnet, die Häftlinge liefen jedoch nicht weg, weil sie nicht wussten, was los war. Meine Eltern blieben noch eine Woche lang im Lager, bis die Russen einmarschierten. Alle Leute hatten Angst. Man sagte, dass man außerhalb des Lagers beschossen werde. Endlich entschied mein Vater, dass wir hinausgehen und nach Bydgoszcz fahren sollten, um meine Brüder zu suchen. Unser Fahrzeug war der Karren, mit dem mein Vater Kartoffeln von den Kartoffelmieten gefahren hatte. Wir luden unseren ganzen Häftlingsbesitz darauf: ein Federbett, ein Kissen und einige persönliche Sachen und so zogen wir den Karren über Felder, weil auf den Straßen Soldaten gingen. […]