Henryk Łagodzki – Decknamen „Orzeł” [Adler] und „Hrabia” [Graf], Kriegsgefangenennummer 105494 – wurde am 15. Juli 1927 in Warschau geboren. Als Soldat der Polnischen Heimatarmee kämpfte er im Warschauer Aufstand im Stadtteil Śródmieście Północ. Am 5. Oktober 1944 verließ er die Stadt mit seiner Einheit. Nach einem Aufenthalt im Lager in Ożarów war er in den Stammlagern 344 Lamsdorf und IV B Mühlberg interniert. Seit Dezember 1944 arbeitete er in der Glashütte in Brockwitz. Gleich nach der Befreiung im Jahr 1945 kehrte er heim.
Am 1. August 1944 verließ ich mein Haus in der Łucka Straße, um am Aufstand teilzunehmen. Meine Eltern waren in der Stadt. Ich hinterließ ihnen einen Zettel, dass ich bald zurück bin... [...]
Wir können es kaum glauben, doch es ist wahr. KAPITULATION. Am 3. Oktober um 7:30 Uhr verlassen wir den Ort, den wir 63 Tage lang verteidigt haben. Wir können es nicht fassen, dass wir trotz erfolgreicher Verteidigung der Außenposten, diese verlassen müssen und dass die Ukrainer das Gebiet ohne einen einzigen Schuss einnehmen. Dem Befehl ist zu folgen. Wir marschieren in geschlossener Formation zur Truppenkonzentration des II. Bataillons des Verbandes „Chrobry II.” des 15. Infanterieregimentes der Heimatarmee.
In der Żelazna Straße Nr. 36 stellten sich alle Truppen in Reihen, mit Gewehr, zu vieren auf, mit unseren Anführern an der Spitze. Vor dem Abmarsch in die Gefangenschaft fand ein Gottesdienst statt, zu dem sich neben Soldaten auch die Zivilbevölkerung zahlreich versammelte.
Vor der Messe hatte ich mich von meinen Eltern verabschiedet, mit denen ich in der Łucka Straße Nr. 14 wohnte, und die zurzeit im Keller des Hauses lebten. Bei der Gelegenheit konnte ich einige Gebrauchsgegenstände einpacken. Meine Eltern waren verzweifelt darüber, dass ich gehe, ich konnte jedoch meine Waffenbrüder nicht verlassen, mit denen ich auf Leben und Tod kämpfte. Das war damals wahre Solidarität.
Mit Bedauern verlassen wir die uns so wichtigen Mauern, unsere Schanzen. Wir verabschieden uns von den Juden, die in unserem Kommando waren und die jetzt beschlossen hatten, in der Stadt zu bleiben, weswegen sie große Vorräte an Nahrungsmittel angelegt hatten. Einige jüdische Aufständische entschieden sich, mit uns in die Gefangenschaft zu gehen. Mit geänderten Namen überlebten sie die Gefangenschaft, keiner verriet sie und alle kehrten nach dem Krieg zurück.
Das Regiment formiert sich an der Stelle, wo die erste Truppenkonzentration stattgefunden hat. Der Abmarsch findet am Vormittag gegen 10 Uhr statt. Wir marschieren durch die Straßen Żelazna, Chłodna, Kerceli Platz, Przyokopowa bis nach Ożarów Mazowiecki. Wir lassen die Köpfe hängen und gehen in die deutsche Gefangenschaft, wir nehmen Abschied von der Zivilbevölkerung, die zurückbleibt. Auf beiden Seiten der Żelazna Straße bis zur Grzybowska Straße stehen Eltern, die aus Kellern herausgekommen sind, um sich von ihren Liebsten zu verabschieden. Am Ende der Łucka Straße sehe ich noch einmal meine Eltern stehen, ich winke ihnen, doch sie haben mich nicht bemerkt. Vor der Grzybowska Straße stehen auf beiden Seiten der Straßen Żelazna und Chłodna deutsche Soldaten mit schussbereitem Gewehr. Die Straße ist aufgeräumt, doch ringsherum sieht man überall Schutthaufen und verbrannte Häuser.
Wir biegen in die Chłodna Straße ein und gehen am mehrstöckigen Gestapo‐Gebäude vorbei. Da überkommen mich Erinnerungen: der Bunker steht noch am Tor in der Żelazna Straße Nr. 75, zerstörte Fenster sehen wie leere Augenhöhlen aus. Hier war ich im Juli 1943 festgenommen und im ersten Stock gemeinsam mit Ryszard Kowalski gefangen gehalten worden (der später im Konzentrationslager umgekommen ist). Hier sah ich in den ersten Tagen des Aufstandes SS‐Männer, die gefangen genommen wurden und bei der Verstärkung von Barrikaden und beim Säubern der Bürgersteige arbeiteten.
Unsere Kolonne marschiert in Reihen die Chłodna Straße entlang, eskortiert von deutschen Soldaten, die uns mit Hass betrachten. Durch die „Augenhöhlen“ der verbrannten Häuser sehen wir auf den Höfen glimmendes Feuer, wo menschliche Überreste zu Ende brennen. Ukrainer, die Zivilisten ermordet haben, haben die Leichen zu Haufen geschichtet, mit Benzin übergossen und angesteckt, um den Gestank verwesender Leichen zu beseitigen. Das gleiche Bild sehen wir, als wir die Wolska Straße entlang gehen.
Wir biegen zum Kerceli Platz ein, wo in der Mitte Tische und Körbe für Handfeuerwaffen stehen. Wir werfen unsere Waffen auf einen Haufen: Gewehre ohne Schloss, gebrochene Zündnadeln. Kaum einer hat funktionsfähige Waffen abzugeben. Dieser Platz sah am zweiten Tag des Aufstandes völlig anders aus. Ich sehe noch den erbeuteten Panzer und lächelnde Jungs von Bataillon „Parasol” darauf. Und jetzt sind wir hier von einer Eskorte deutscher Soldaten umstellt. Außerhalb der Warschauer Stadtgrenzen sieht die Zivilbevölkerung die marschierende Kolonne der Verteidiger von Warschau und will uns Gemüse, Obst und Wasser reichen, doch sie werden nicht an uns heran gelassen. Aufständische sind jedoch harte Jungs und Mädels – wir fangen an, Partisanen‐ und Aufstandslieder zu singen, womit wir die Eskorte überraschen. Es helfen keine Schreie und Kolbenschläge, die die am nächsten Stehenden zu spüren kriegen.
Wir sind müde und niedergeschlagen. Langsam verlassen wir die Stadt in der langen Gefangenenkolonne, von der weder der Anfang, noch das Ende zu sehen sind. Ab und zu bleiben wir kurz stehen oder müssen Halt machen, weil Verletzte, die nicht ins Krankenhaus gehen wollten, die mühsame Wanderung nicht durchhalten. Zum ersten Mal seit zwei Monaten sehen wir Felder und Wiesen, wir gehen an ersten Gebäuden vorbei. Es laufen Dorffrauen zu uns, mit Tränen in den Augen, sie bringen uns Essen, frische Milch und kaltes Wasser. All diese Schätze kriegen wir während des Marsches. Wir stillen den Hunger, nicht alle von uns haben heute gefrühstückt. Die Wehrmachtssoldaten erlauben den Frauen nicht, nahe heranzukommen, doch keiner achtet darauf, überall sind Schreie zu hören. Manche bleiben kurz stehen, doch die Kolonne wartet nicht und so bleiben sie unter den Dorfmenschen zurück. Weit auf der linken Seite sieht man die Mauern der Kabelfabrik – das ist Ożarów, das Ziel unserer heutigen Wanderung. Wir werden in leere, schmutzige Fabrikhallen hineingetrieben. Alle fallen vor Erschöpfung einfach auf den schmutzigen, kalten Beton. Hier verbringen wir die Nacht.
Der 16‐Kilometer‐Marsch zum Lager setzte uns spürbar zu. 65 Tage lang hatten wir keine Gelegenheit, lange Strecken zurückzulegen. Die Nacht auf dem Stroh, auf dem Betonboden machte sich genauso wie der Marsch bemerkbar, jedoch konnten wir unsere Knochen etwas ausruhen. Eine so lange Erholung hatten wir seit über zwei Monaten nicht gehabt. Der Schlaf ohne Essen – wir kriegten kein Mittagessen, nicht mal eine Ration – war nur leicht. Am 6. Oktober wachen wir hungrig, schmutzig und rot von der Mennige, die überall verstreut war auf. Wir gehen raus auf der Suche nach etwas Warmem zu Essen, das uns seit langem fehlt. So beginnt unser Gefangenenepos.
Der zweite Tag der Gefangenschaft fängt an. Das Wetter ist schlecht. Es nieselt und es ist feucht. Es gibt keine Chance auf Essen. Alle sind mit Mennige beschmiert. Es gibt keine Waschmöglichkeit, keine Toilette. Männer und Frauen erleichtern sich draußen an den Wänden. Keiner schämt sich, die Umstände zwingen zu solchem Verhalten. Erst später zeigte sich, dass auf dem Nebengleis der Kabelfabrik Güterwagen bereitgestellt wurden. Man holte daraus Kessel mit Kaffee, endlich dürfen wir etwas Warmes trinken. Andere Gefangene „organisierten“ frisches Brot und Margarine und teilten diese mit uns.
Früh am Morgen wird eine Liste vorgelesen und damit begonnen, Gefangene in die Waggons zu „verladen“. Wir werden wie Vieh oder noch geringschätziger in die Waggons hineingetrieben. In diese „Viehwaggons“ müssen 60 Personen mit Gepäck rein. Es wird uns Essen für die Reise gegeben: je ein Laib Brot und ein bisschen Margarine. Die Verladung wird von Schreien begleitet: „Banditen”. Mein Freund „Moneta” und ich halten zusammen. Im Wagen stellen wir uns nah ans Fenster, das ist zwar nicht immer günstig, wie sich später herausstellt, aber zumindest kann man noch atmen. Wir stehen dicht gedrängt wie Sardinen, keiner kann die Position wechseln, das müssen wir erdulden. Das Schlimmste daran ist, dass es keine Toilette gibt. Wir finden eine Lösung: wir schneiden eine Öffnung im Boden aus, die jedoch für manche Notdurft zu klein ist. Der Kollege Leszek Brzozowski stellte einen 1‐Liter‐Becher für sanitäre Zwecke zur Verfügung, dessen Inhalt durch ein vergittertes Fenster ausgegossen werden muss. Manchmal gelingt dies nicht, dann landet der Inhalt teilweise auf den Köpfen der am nächsten Stehenden.
Die Reise unter solchen Umständen dauert drei Tage und drei Nächte. Inzwischen wurde die Tür des Waggons nur zweimal kurz geöffnet. In einer Nacht ist der Sturm besonders stark. Plötzlich erwachen wir wegen durchdringender Kälte und Schneeregens. Der Wind reißt das Dach des Wagens ab. Wir sehen über uns den schönen, bedrohlichen Himmel, es gibt keine Spur vom Dach mehr. Im ersten Moment wollen wir flüchten, dann drängte sich jedoch die Erkenntnis auf, dass wir auf deutschem Gebiet, in einer unbekannten Gegend sind und schnell erwischt werden können. Unsere Schreie und Schläge gegen die Wände hört keiner. Viel Zeit vergeht bis der Zug anhält. Wir sind durchnässt und durchgefroren, seit zwei Tagen hatten wir nichts mehr zu Essen. Die bewaffneten Wachmänner sind wütend, sie müssen die anderen Waggons öffnen und in jeden davon einige von uns hineinstopfen. Das ist nicht einfach und geht nicht ohne Beschimpfungen. Alles findet im Dunkeln, im Sturm und kalten Regen statt. Endlich fährt der Zug weiter, alle schweigen, im Stehen schlafen wir ein. Im Laufe des Tages wird der Waggon noch einmal geöffnet. Wir werden gezählt, als würde man befürchten, dass jemand flüchtet. Schlauere reißen auf einem Feld Kohlrüben und Kohlköpfe raus. Dies wirkt sich dann aber katastrophal auf ihre Gesundheit aus – bis zum Ende der Reise sind sie krank. Der Gestank im Waggon ist unerträglich. Länger würden wir die Kranken nicht mehr ertragen können. Wir haben nichts zu Essen und zu Trinken dabei, nicht alle haben Vorräte aus Warschau.
Am dritten Tag früh öffnen die Deutschen die Waggons und lassen uns aussteigen. Es warten auf uns bewaffnete Wachmänner mit Hunden. Nicht alle können selbst aussteigen. Viele sind krank. Wir tragen diese aus den Waggons und legen sie direkt auf den Boden, später soll man sie in das Lager tragen. Die Station Lamsdorf liegt weit vom Lager entfernt. Man muss noch über zehn Kilometer laufen. Wir werden zu einer langen Kolonne formiert, ringsherum herrschte Chaos, überall hört man Rufe. Aufgeregte Hunde bellen und greifen uns an.
Nach dem ziemlich frostigen Morgen wird der Tag heiter und sonnig. Mit Genuss atmen wir die frische Luft ein, die uns zwei Monate lang gefehlt hat. Die Kolonne bewegt sich langsam, die Bewacher schreien, langsamere Kollegen werden mit Hunden gehetzt. Während des Marsches erschleichen sich die Wehrmachtsoldaten von uns wertvolle Gegenstände, wie Uhren und Schmuck, indem sie uns überzeugen, dass uns während der Durchsuchung sowieso alles weggenommen werden wird. Manche glauben es und ich sehe, dass sie Dinge weggeben oder gegen Zigaretten und deutsche Marken tauschen. Viele ältere und schwächere Kollegen lassen ihr Gepäck zurück. Der Marsch dauert einige Stunden. Aus der Entfernung sehen wir Wachtürme, Stacheldrahtzaun und Baracken sowie die Einöde ringsum. Links sieht man weit entfernt einige Häuser und einen kleinen Wald.
Gegen Mittag ist plötzlich eine Erregung feststellbar, alle schauen zum Himmel. In der Entfernung sieht man zwei Punkte, die sich ganz schnell in unsere Richtung bewegen. Es sind deutsche Flugzeuge. Wahrscheinlich im Übungsflug. Sogar die Deutschen werden ruhig und schauen zum Himmel. Die Flugzeuge entfernen sich, dann kehren sie um und fliegen aufeinander zu. Vielleicht starren die Piloten gerade unsere Riesenkolonne an. Plötzlich hört man Knall und Krach, die Flugzeuge stoßen zusammen. Sofort kommt es zu einer gewaltigen Explosion, Flammen steigen auf. Für die Augen mehrerer Tausend Aufständischer ist dies ein wundervolles Bild. Ein lauter Schrei ertönt und wir brechen in Jubel aus. Das Schicksal sorgt dafür, dass unseren Feinden Gerechtigkeit zuteil wird. Die Wachmänner erwachen wie aus dem Schlaf, wieder Schreie und Hundebellen. Die Kolonne zieht weiter, ihre Spitze ist schon fast am Tor des Lagers. Unter uns herrscht eine Riesenfreude. Alle freuen sich und kommentieren das Ereignis, als hätten wir vergessen, wo wir sind. Mit den Schreien: „polnische Banditen” werden wir zurechtgewiesen.
Durch das Haupttor kommen wir auf das Lagergelände. Wir, Minderjährige, sollen uns mit einer Gruppe von Offizieren auf die linke Seite stellen. Alle Anderen auf die rechte Seite. Frauen, die in der Minderzahl sind, werden in separate Baracken verwiesen. Diese grenzen auf einer Seite an Slowaken, auf der anderen Seite an uns. Unter den Berufsoffizieren sind viele ältere Personen. Diese fallen vor Müdigkeit fast um, sie brauchen Hilfe. Es erwartet uns noch eine weitere Anstrengung – Durchsuchung und Unterbringung.
Die Deutschen stellen uns auf dem „Plünderungsplatz“ in langen, endlosen Reihen auf. Wir legen alles, was wir besitzen vor uns hin und die Durchsuchung dauert bis spät in der Nacht. Nach einiger Zeit werden manche von uns in die Baracken geschickt. Von allen Seiten hören wir, dass wir polnische Banditen seien, mit denen Schluss zu machen ist. Wir sind wieder einen ganzen Tag lang ohne Essen. Vor Hunger kaue ich an meinem Gürtel. So ist zumindest mein Kiefer beschäftigt. Ich kriege ein bisschen lauwarmen „Kaffee“. Den trinke ich gierig aus.
In der Baracke stehen in einem riesigen Saal dreistöckige Pritschen. Wir, als Jüngste, kriegen die oberen Stockwerke, was sich als sehr unangenehm erweist. Das ganze Ungeziefer sitzt an der Decke, vor allem Wanzen, die in der Nacht direkt auf unsere Gesichter fallen. In der Früh sehen wir schrecklich aus, blutbefleckt, mit Blut aus zerdrückten Wanzen beschmiert. Die Strohsäcke sind aus Papier und mit verfaultem Häcksel gefüllt. Darauf liegen Reste von Decken, mit denen wir uns zudecken.
Der Morgen des ersten Tages im Lager ist frostig, aber heiter. Zum ersten Mal seit mehreren Tagen schlafen wir unter menschenwürdigeren Bedingungen. An dem Tag findet kein Appell statt. Wir müssen uns ordentlich zurechtmachen. Wir sind schmutzig und verlaust, was viele nicht zugeben wollen. Als Erstes wasche ich mich möglichst genau. Das ist nicht einfach, weil es viele andere gibt, die sich auch waschen wollen. Dann bitte ich „Moneta”, dass er mir den Kopf kahlrasiert. Durch diese „Operation“ entsteht auf meinem Kopf ein blutiger Fleck. Nach dem Kopfwaschen und sich Erfrischen fühle ich mich viel besser, nur mein Aussehen hat sich verändert. „Moneta”, dessen Haar üppiger ist als meins, entscheidet sich auch für diese Operation und verspürt danach eine riesige Erleichterung, wie er später zugibt. Morgens ist es kühl, wir verschaffen uns aber eine Kopfbedeckung.
Nach all den Aktivitäten schmeckt uns der warme „Kaffee“ und eine Brotschnitte sehr. Das ist die Tagesration, die ich sofort verschlinge. Der Hunger quält mich weiter. Man muss auf das Mittagessen warten, das nur die Stärkeren und Schlaueren bekommen. Wenn Kartoffeln fehlen, muss man sich mit dünner Flüssigkeit zufrieden geben, die man Suppe nennt.
Und so fängt langsam unser „normales“ Lagerleben an. Manche verschaffen sich von irgendwoher Stroh, die Meisten schlafen aber auf nackten Brettern. Offiziere sorgen für Ordnung in den Baracken und versuchen, aus uns richtige Soldaten zu machen, was in einer so differenzierten Gruppe nicht immer erreichbar ist. Sie sorgen dafür, dass Kleidung und Schuhe gereinigt werden, damit den Deutschen bewiesen wird, dass wir Soldaten und nicht Banditen sind. Nicht alle haben das Glück in Baracken untergebracht zu werden. Manche Kollegen nächtigen noch unter freiem Himmel. Die Deutschen schaffen hastig russische Gefangene aus den Baracken fort, damit Aufständische in die Baracken ziehen können. Immer häufiger hörte man Schüsse in dem kleinen Wald in der Nähe des Lagers.
Nach einigen Tagen werden ich und „Moneta” auf die andere Lagerseite, in viel schlimmere Umstände versetzt. Hier gibt es keine Strohsäcke, keine Deckenstücke, keine Pritschen, sondern nur dreistöckige primitive Lager; Fensterscheiben fehlen. Wir nehmen die Plätze unter der Zimmerdecke –hier setzen uns riesige Wanzen arg zu, es gibt Unmengen davon. Unsere Baracke steht am „Plünderungsplatz”, durch einem Draht abgetrennt. Zwei Baracken weiter, am nächsten zu den Mädchen vom Aufstand, sind der Friseur und die „Krankenstation“ untergebracht.
Auf der rechten Seite befindet sich der nah am Stacheldraht und Wachturm gelegene „Appellplatz”, durch den man zum Klo (Latrine) gehen muss. Hier findet auch unser Tauschhandel mit Slowaken statt, die bessere Bedingungen haben und sogar Pakete kriegen. Nicht alle Wächter haben etwas dagegen. Manche drücken ein Auge dabei zu, man kann sie mit Zigaretten bestechen, die meisten von ihnen sind Schlesier.
Nach einigen Tagen werden wir zum Badehaus getrieben, unsere Zivilkleidung wird uns weggenommen. Um meine schönen Reithosen, die ich am letzten Tag des Aufstandes von meinem Bruder gekriegt habe, tut es mir besonders leid.
Dann wird man mit einem sehr stumpfen Rasierer, der den Körper verletzt, rasiert. Eine weitere Person pinselt die rasierten Stellen mit einer grauen, stinkenden, abscheulichen Masse zu, von der die meist verletzten Stellen stark brennen. Nach all diesen Operationen geht man unter die Dusche. Ein Wachmann reguliert die Wassertemperatur nach Lust und Laune: mal siedend heiß, mal kalt. Erst nach der Intervention der meisten Nackten passt er sich unseren Forderungen an. Jedem, bei dem Läusebefall festgestellt wurde, wird der Kopf zwangsweise rasiert. Anschließend werden wir zum Fotografen verwiesen. Jedem von uns wird eine Riesentafel mit einer Nummer auf die Brust gehängt, dann wird er von drei Seiten fotografiert. Manche erkennen sich auf den Fotos nicht wieder. Wir sehen nicht mehr wie Kriegsgefangene, sondern wie Kriminelle aus.
Die Nächte im Lager sind meist unerträglich, weil wir während des gesamten Aufenthaltes im Lager Lamsdorf weder Strohsäcke noch Decken erhalten. Gefaltete Hosen dienen als Strohsack, Schuhe als Kopfkissen und eine Anzugjacke oder ein Mantel als Bettdecke. Die Baracken sind aus Holz, ohne Fensterscheiben, nicht geheizt. Der Herbst 1944 ist kühl. Am ärgsten setzt uns der Wassermangel zu. Ein Brunnen für einige Hundert Menschen ist absolut nicht ausreichend. Zum Waschen dient uns der „Kaffee“, den man uns zum Frühstück gibt, doch was kann man mit wenigen Tropfen dieser Flüssigkeit schon anfangen? So ist es um die Hygiene im deutschen Kriegsgefangenenlager bestellt. Es rettet uns nur, dass man uns ab und zu ins Badehaus bringt.
Unausstehlich ist auch das Mittagessen. Manches ist nicht essbar, in der Regel reichen die Kartoffeln nicht für alle. Am schlimmsten sind die Tage, an denen es getrocknete Kohlrüben zu Mittag gibt, diese kann man sogar gekocht nicht runterkriegen.
Tägliche Appelle sind gleichzeitig ein Alptraum und eine Abwechslung in unserem eintönigen Leben. Diese dauern stundenlang ungeachtet des Wetters, wir werden mehrmals durchgezählt.
Ich erinnere mich, dass einmal die deutsche Filmchronik kam und die deutsche Propaganda – Abteilung sich für einen unserer jüngsten Kollegen interessierte – für den vielleicht 10‐jährigen „Kajtek”, der in hohen Stiefeln lief und nicht besonders groß war. Sie konnten nicht glauben, dass so kleine Jungs so tapfer kämpfen konnten, offensichtlich wollten sie ihn als Beispiel Mitgliedern der Hitlerjugend zeigen.
Es kam öfters vor, dass wir die Vermittlung sowjetischer Gefangener nutzten, die bestimmte Funktionen hatten und u.a. Exkremente aus Latrinen beseitigten. Sie hatten Zugang zu allen kleinen Lagern auf diesem Gelände, sowie zur Küche, zum Badehaus usw. Von ihnen konnten wir Informationen über das Schicksal unserer Offiziere einholen, durch ihre Vermittlung konnten wir Tauschgeschäfte machen.
In dieser Zeit rauchte ich Zigaretten, was für einen ausgehungerten Magen nicht besonders gesund ist. Eine Zigarette teilte man in vier Stücke und rauchte in einer Zigarrenspitze. Um den Rauchenden versammelten sich Kollegen, die den Rauch mit Vergnügen einatmeten. Wenn uns Zigaretten fehlten, klaubte man Knorren aus Brettern heraus oder riss Blätter von dem einzigen dort wachsenden Baum ab und rauchte diese in einer Selbstgedrehten aus Zeitung.
Danach kam die Fahrt nach Mühlberg. Vor der Abfahrt gibt es natürlich eine Durchsuchung auf dem „Plünderungsplatz“. Wir verabschieden uns herzlich von Kollegen, die im Lager bleiben, mit „bis bald im freien und unabhängigen Polen!”. Jetzt werden wir auf einem anderen Weg, das gesamte Lager entlang, durch dessen Mitte geführt. Auf beiden Seiten sieht man Lagerbauten, Lagerräume, Waschhäuser und sowjetische Lager. Man sieht die ausgemergelten Gestalten sowjetischer Gefangener, welche die schlimmsten Arbeiten verrichten. Sie werden auch anstelle von Pferden vor Wagen gespannt. Diese von allen vergessenen Gefangenen taten uns am meisten leid. Wir teilen mit ihnen Zigaretten und andere verfügbare Dinge. Die Eskorte erlaubt keine Gespräche, doch man findet immer eine Gelegenheit.
Vor uns erscheint der Güterbahnhof Lamsdorf. Wir werden wieder in Güterwaggons, fünfzig Personen auf jeden Waggon „verladen“. Nach zwei Tagen anstrengender Reise kommen wir in Mühlberg an. Unterwegs werden wir besser behandelt und nach der Ankunft im Lager in zwei Baracken untergebracht, die von dem großen Lager mit Draht abgetrennt sind. In diesem Quadrat werden auch unsere Mädchen untergebracht. Im Vergleich zu Lamsdorf erscheint uns dieses Lager wie das Paradies. Wir sehen hier Gefangene verschiedener Nationalitäten, die sogar frei Ball spielen; saubere Baracken, Decken, Strohsäcke, und das Wichtigste: frische und saubere Uniformen.
Gefangene erhalten Pakete vom Roten Kreuz, daher sind sie satt, was man von uns nicht sagen kann. Nach wenigen Tagen erhalten auch wir je eine Hälfte eines kanadischen Pakets. Viele von uns werden krank, weil unsere Mägen so viele Köstlichkeiten nicht vertragen. Noch bevor wir die Pakete bekommen, werden manche Kollegen in Absprache mit der Lagerführung von Engländern und Amerikanern eingeladen. Sie werden sehr herzlich aufgenommen und mit Zigaretten, Schokolade und Dosenfleisch beschenkt. Auch andere, denen diese Ehre nicht zuteil wird, erfahren viele herzliche Gesten. Man wirft uns Zigaretten und andere Dinge über den Zaun zu. Am 6. Dezember erhalten wir alle zum Nikolaustag Geschenke von Engländern. An dem Tag findet auch die heilige Messe mit Kommunion statt. Mitte Dezember 1944 werden wir mit einem Personenzug nach Brokwitz geschickt, angeblich zur Glashütte in der Fabrikstrasse 1. In der Tat werden hier Rümpfe von Flugzeugen gebaut. Unsere kleine Gruppe wird von zivilen Deutschen, Arbeiter dieses Werkes, eskortiert. In der Fabrik werden wir in einer großen alten Fabrikhalle untergebracht. Diese hat einen Ziegelboden und nur zwei Oberlichter, die kaum Licht einlassen. Glücklicherweise ist die Lüftung gut, weil in dem Raum fünfzig Leute wohnen. Wieder leben wir unter schweren Umständen. In dem Raum, wo wir untergebracht sind, gibt es keine Pritschen. Wir kriegen nur Holzwolle, aus der wir uns Schlafstätten machen. Es beaufsichtigt uns ein lahmer deutscher Offizier, ein Veteran von 1914, und Stubendienst hat ein Unteroffizier.
In einer riesigen Fabrikhalle arbeiten wir bei der Vernietung und Montage von Flugzeugrümpfen. Es zeigte sich im Nachhinein, dass keins dieser Flugzeuge je geflogen ist. Deren Entwickler wurde angeblich erschossen.
Im Nebensaal wohnen die jüngsten Kollegen, die damals 10 bis 15 Jahre alt waren. Man behandelt sie schlecht und sie müssen als Schuster und Schneider schwer arbeiten, obwohl sie keine Ahnung von diesen Berufen haben.
Wir befinden uns 17 Kilometer von Dresden entfernt. Wir überleben alle Bombardierungen der Stadt. Wir sehen den von Raketen erhellten Himmel und das vom Himmel herabprasselnde Feuer – so geht die Stadt zugrunde.
Die Front nähert sich. Wir hören das Dröhnen der Kanonen immer näher. Wir hoffen, dass es nicht mehr lange dauert. Jetzt erhalten wir wieder amerikanische Pakete. Es gibt darin Zigaretten, für die man alles kaufen kann. Wir kriegen auch englische Uniformen, doch ohne Schuhe – nur Stulpen für Reithosen. Endlich sehen wir wieder wie Menschen – Soldaten aus. Unsere Mäntel haben am Rücken eine mit weißer Farbe gemalte Aufschrift „Kriegsgefangener”. Aber dagegen finden wir auch eine Lösung. Wir wischen die Aufschrift ab und malen ein kleines rotes Dreieck darauf – wie es Gefangene im Jahr 1939 hatten.
An Weihnachten 1944 sind wir hoffnungsvoll und satt. Wieder kriegen wir Pakete.
Die Front hört man immer näher, Luftangriffe der Alliierte werden immer häufiger. Nachts zwingt man uns, in den Bunker auf dem Hof zu laufen. Die Deutschen verstecken sich und wir stehen draußen und beobachten das brennende Dresden. Es herrscht dann weniger Disziplin.
Mitte April 1945 werden wir evakuiert. Wir werden in Richtung der tschechischen Grenze getrieben. Wir gehen in der Regel nachts, tagsüber erholen wir uns. Am 8. Mai, irgendwo im Gebirge nahe an der tschechischen Grenze, dienen wir als Deckung für die sich zurückziehende deutsche Armee. Auf den Hügeln sehen wir sowjetische Kanonen stehen. Die sind in unsere Richtung gerichtet und es passiert... Staub, Dröhnen, Qualm – viele menschliche Leichen und getötete Pferde. Die meisten Opfer sind jedoch wir, die jüngsten Soldaten der Heimatarmee, jetzige Kriegsgefangene. Haben die Sowjetbürger die großen weißen Aufschriften „Kriegsgefangene” nicht gesehen? Nicht alle haben ihre Aufschriften abgewischt.
In diesem Augenblick laufen alle in den Wald . Hier ist es sicherer. Hier sind sogar die SS‐Männer nett und lächeln uns an.
Auf diese Weise wurden wir von der Roten Armee befreit. Daneben waren die Amerikaner da, doch ich und „Moneta” beschlossen, nach Warschau zurückzukehren. Die Stadt war uns wichtig – dort ließen wir unsere Familien zurück. Dort blieb unsere Jugend, dort kämpften wir um die Freiheit Polens.
Nach einer anstrengenden Reise kehrte ich am 22. Mai 1945 nach Warschau zurück. So endete mein sechsjähriges Kriegsepos.