CZESŁAW STOKOWSKI
Aus der Gefangenschaft nach Hause. Lebenserinnerungen eines Soldaten
Der Autor dieses Berichts wurde 1913 in Grochów, im Landkreis Sokołów Podlaski, geboren. Als Berufssoldat im Rang eines Unteroffiziers der Polnischen Armee nahm er am Verteidigungskrieg teil. Am 13. September 1939 gelangte er in deutsche Kriegsgefangenschaft, in das Kriegsgefangenenlager Stalag I A in Ostpreußen. Ende September wurde er nach Baalau (Balewo) nahe Sztum (Stuhm) abtransportiert, wo er auf einem Landgut bis zu seiner Flucht im Juni 1942 Zwangsarbeit verrichten musste.

Im Mai 1935 wurde ich einberufen, um meinen Wehrdienst im 71. Infanterieregiment, das in Zambrów stationiert war, zu leisten. Dort absolvierte ich im Jahre 1937 die Unteroffiziersschule. Im März 1939 absolvierte ich einen einjährigen Geschwaderkurs für Berufsunteroffiziere im 33. Infanterieregiment in Łomża. Sofort nach dem Kurs wurde ich zum Wehrdienst in der 7. Kompanie des 3. Bataillons des 71. Infanterieregiments in Zambrów einberufen. Ich übernahm die Pflichten des Zugführers des 3. Zuges. Der Befehlshaber der 7. Kompanie war Hauptmann Klemens Janitz. Im April 1939 wurde ich mit meinem Zug mit einer Sonderaufgabe beauftragt: mit dem Bau verschiedenartiger Befestigungen in Wizna am Fluss Narew. An diesem Ort waren wir bis zum 30. August 1939 stationiert.

An diesem Tag wurde die ganze Befestigungsstrecke von Major Jakub Fober, dem Befehlshaber des 3. Bataillons des 71. Infanterieregiments, übernommen. Am Abend, nach der Umgruppierung der Streitkräfte auf der Strecke Wizna‐Pstręgowo, wurde das Kommando von Leutnant Stanisław Świstek übernommen und wir zogen mit dem gesamten Bataillon von Wizna nach Czerwony Bór.

Am 7. September bekam ich während der Einsatzbesprechung beim Kompaniechef den Befehl, mit meinem Zug im Abschnitt zwischen den Dörfern Szabły Stare und Szabły Młode auf Erkundung zu gehen. Die Aufgabe war sehr schwer, doch es hatten sich so viele Freiwillige gemeldet, dass ich manche zurück in die Reihe schicken musste. Nachdem ich die Absicherung angewiesen und jedem Spähtruppmitglied eine Aufgabe zugeteilt hatte, liefen wir los. Wir verließen den Wald und gingen in Richtung der Dorfgebäude in Szabły Młode. Als wir uns auf einer großen Wiese befanden, erschien der Mond hinter den Wolken. Plötzlich schossen von rechts Leuchtgeschosse in die Luft und wir wurden von Maschinengewehren beschossen. Wir stürzten nieder und lagen flach auf den Boden gedrückt. Ich erinnerte mich daran, dass ein Entwässerungsgraben in der Nähe war. Ich lenkte meine Männer dorthin. Während Unterbrechungen im Geschützfeuer zogen wir uns ins Dunkle zurück. Zum Glück wurde niemand auf der Wiese verletzt oder getötet, während die Deutschen uns ihre Position und ihre Feuerstellungen verraten hatten. Nach unserer Rückkehr von der Auskundschaftung erstellte ich einen Bericht, mit dessen Hilfe die Bataillonsbefehlshaber einen detaillierten Angriffsplan entwarfen.

Im Morgengrauen des 8. Septembers traten wir zum Angriff an und verdrängten den Feind von seinen Stellungen. Bei der Verfolgung der fliehenden Deutschen erbeuteten wir sehr viel Ausrüstung, Wagen, Panzerwagen, Waffen und Verpflegung.

Beim zweiten Angriff auf Zambrów am 11. September aus der Richtung des Dorfes Poryte kam es zu einem gewaltigen, blutigen Kampf mit dem Feind. Die Deutschen beschossen uns mit Artilleriegeschossen und Maschinengewehren. Es gab viele Tote und Verletzte während dieses langen und schwierigen Kampfes. Auch unser Befehlshaber wurde tödlich verwundet und ich konnte leider nichts mehr für ihn tun, er starb vor meinen Augen. Vor Schmerz riss er die um uns herum wachsenden Kartoffelbüsche aus der Erde.

In der Nacht vom 12. auf den 13. September wurden wir nach erfolglosen Versuchen, uns durch den Ring deutscher Truppen um uns herum durchzuschlagen, gezwungen uns zu ergeben. Die Deutschen entwaffneten uns in Łętownica bei Andrzejewo. Trotz des Entschlusses unserer Vorgesetzten sich zu ergeben, hegte ich die Hoffnung, dass wir von anderen Truppen unserer Armee frei geschlagen werden würden. In der Hoffnung, bald wieder gegen den Feind zu kämpfen, hatte ich meine Dienstpistole Vis und die Personalliste meines Zuges versteckt. Ich wusste, dass ich bei der ersten sich ergebenden Gelegenheit einen Fluchtversuch unternehmen werde. Ich wollte meine Familie vor den Konsequenzen meiner Flucht und des fortgesetzten Kampfes schützen. Als man mich entwaffnete und meine Personalien erfasste, machte ich deshalb falsche Angaben: einen anderen Wohnort, Geburtsort und ich hielt auch meinen Rang im Militär geheim.

Am Abend des 13. Septembers wurden wir unter Begleitung deutscher Soldaten nach Zambrów zur Kaserne des 71. Infanterieregiments getrieben. Man befahl uns, uns auf dem Versammlungsplatz zusammenzufinden. Wie sehr sich unsere Kasernen verändert hatten! Überall waren Stacheldrahtzäune, Wachtürme mit Maschinengewehren, die auf uns zielten und deutsche Soldaten. Viele der auf dem Platz versammelten Kriegsgefangenen hatten, so wie ich selbst, in diesem Regiment gedient, deshalb kannten wir die Gegend in‐ und auswendig. Wir sammelten uns an einer Stelle und dachten über die Flucht nach. So gegen Mitternacht, als wir sicher waren, dass die Deutschen schon eingeschlafen waren, unternahmen wir den Versuch, vom Gelände der Kaserne zukommen, und zwar durch die Böschung des Regimentsschießstands. Wir hatten uns aber tragischerweise geirrt: Die Deutschen waren wachsam und auf den Fall einer Flucht vorbereitet. In dem Moment, als wir aufsprangen und anfingen, in Richtung der Böschung zu rennen, leuchteten Scheinwerfer grell auf und es war plötzlich taghell. Die Wächter auf den Wachtürmen begannen, mit Maschinengewehren auf uns zu schießen. Wir waren ein einfaches Ziel und unsere Schinder schossen auf jeden, der sich regte. Wir mussten bis zur Morgendämmerung bewegungslos daliegen. Viele der Ausbrecher wurden tödlich verletzt, wahrscheinlich ist es dennoch einigen Glücklichen gelungen, zu entkommen.

Nach einer grauenhaften, schlaflosen Nacht wurden wir am Morgen an eine Kolonne anderer Kriegsgefangener angeschlossen, mit deren Bildung die Deutschen in der Frühe begonnen hatten. Wir wurden vom Kasernenplatz auf die Straße Richtung Łomża getrieben. Während dieses endlosen, 30 km langen Marsches fielen zahlreiche polnische Soldaten vor Müdigkeit um, aber die deutschen Soldaten waren grausam und zwangen uns mit Schlägen, weiter zu laufen. Auch ich bekam einige Gewehrkolbenhiebe auf dem Rücken zu spüren, als ich eine Tomate auffangen wollte, die ein Dorfbewohner in unsere Richtung warf, während wir von den Deutschen durch ein Dorf geführt wurden. Das Ende dieses qualvollen Weges war der Versammlungsplatz der Kaserne des 33. Infanterieregiments in Łomża. Dieser Platz war zwei Tage lang unsere Unterkunft. Wir wurden unter freiem Himmel und ohne irgendeine Verpflegung festgehalten. Ich hörte, dass irgendwo eine Feldküche sei, die Mahlzeiten ausschenke, aber wir sahen sie nicht und sahen auch nicht, dass jemand irgendetwas aß. Ich musste meine Armbanduhr – mein einziges Andenken an Zuhause – gegen ein Stück Brot eintauschen. Nach zwei Tagen, am 16. oder 17. September wurden wir auf unmenschliche Weise durch Jedwabne, zum Bahnhof Dłutowo getrieben (ich weiß nicht, ob ich mich an den Namen richtig erinnere, es mag sein, dass ich den Namen verdreht habe). Dort wurden wir in Viehwaggons verladen und zum Stalag I A abtransportiert.

So begann mein Aufenthalt im Kriegsgefangenenlager. Das Leben im Lager war sehr schwer. Wir wurden in alten, von deutschen gebauten Uniformlagern untergebracht, die mit hölzernen, mehrstöckigen Regalen ausgestattet waren, die uns nun als Schlafplätze dienten. Der Raum war so groß, dass man eine Pyramide bilden musste, um bis ganz nach oben zu gelangen. Andernfalls war es unmöglich, sein Bett zu erreichen. Auf diesen Regal‐Stockbetten verbrachten wir die Nächte ganz ohne Decken. Unsere einzige Bekleidung waren unsere Mäntel und unsere polnischen Uniformen. Nach ungefähr einer Woche begann man, uns in kleinen Gruppen in verschiedene uns unbekannte Richtungen zu verfrachten. Auch für mich kam die Zeit des Abtransports. Da ich bei der Befragung angegeben hatte, dass ich Bauer wäre, wurde ich mit einer Gruppe anderer Kriegsgefangener zur Arbeit in einem Landgut eingeteilt.

Unsere Gruppe von zehn Männern wurde von einem deutschen Wachmann am Lager abgeholt, der uns bis zu unserem Bestimmungsort begleitete. Er befahl uns, in den Wagen zu steigen und so fuhren wir ins Ungewisse. Am Abend erreichten wir ein riesiges Landgut. Wir erfuhren erst später, dass dies die Ortschaft Baalau (Balewo), mit dem Bahnhof Waplewo Wielkie bei Dzierzgonia im Landkreis Sztum war.

Der Wachmann war unser Herr über Leben und Tod. Von morgens bis spät abends ging er mit seinem Gewehr herum und bewachte uns. Er wies uns Arbeiten zu, teilte bescheidene Essensrationen aus, hatte das Recht uns zu bestrafen und konnte uns im Falle eines Fluchtversuches auch erschießen. Auf dem Landgut wohnten wir auf dem Dachboden eines alten, einstöckigen Gebäudes. Im Erdgeschoss befanden sich eine Abfüllanlage und ein Milchlager. Der Raum, in dem wir unser Quartier bezogen hatten, war sehr bescheiden möbliert. An den Wänden lagen auf den Boden geworfene Strohsäcke zum Schlafen, in der Mitte stand ein großer Tisch aus ungehobelten Brettern, daneben standen zwei Sitzbänke. Dies war die komplette Möblierung unseres Quartiers. Oben an den Wänden befanden sich zwei kleine, vergitterte Fenster. Die Arbeit auf dem Bauerngut war schwer, denn sie erforderte große körperliche Anstrengung, besonders im Frühling und im Herbst. Den ganzen Herbst über ernteten wir Zuckerrüben, luden sie auf Pferdewagen und brachten sie dann zum Bahnhof, um sie in Zugwaggons zu verladen. Im Winter waren wir mit Getreidedreschen und der Freilegung von Zuckerrübenmieten beschäftigt. Im Frühling säuberten wir die Bauernhofsgebäude von dem Mist, den die Kühe, Pferde und Schweine festgetreten hatten. Wir transportierten diesen Dünger dann aufs Feld, um ihn dort auszustreuen. Wir erledigten die schwierigsten Arbeiten auf dem Bauerngut. Alles passierte in großer Hast, der Wachmann gönnte uns keinen Moment Ruhe.

Die bescheidenen Mahlzeiten wurden uns von Wachmännern gebracht und ausgeteilt, die alle paar Monate wechselten. An einen von ihnen kann ich mich gut erinnern, er hieß Abramowski und stammte aus der Gegend bei Nowe Miasto Lubawskie. Er war es, der mich mit dem Gewehrkolben gestoßen hatte, dafür dass ich ohne Erlaubnis für einige Minuten zum Brunnen ging, um meinen Durst zu löschen. Wir bekamen keine Kleidung, unsere Uniformen mussten reichen. In diesen liefen wir die ganze Zeit herum und arbeiteten, und allmählich verwandelten sie sich in regelrechte Lumpen, trotz all unserer Bemühungen, sie in Stand zu halten, damit sie einer polnischen Uniform würdig blieben. Der Lohn für unsere schwere Arbeit war bescheidenes, minderwertiges Essen und ein paar Marken, die gerade mal ausreichten, um Rasierseife, klingen und Zahnpasta zu kaufen. Verschnaufpausen hatten wir lediglich an Sonntagen, aber zur Kirche gingen wir nicht, denn wie man uns erklärte, war diese sehr weit weg.

Mit meiner Familie hielt ich keinen Kontakt. Sie wussten weder, wo ich war, noch ob ich lebte. Der Grund dafür war, dass ich seit Beginn meiner Gefangenschaft die Flucht plante, um die Sicherheit meiner Familie fürchtete und meine richtigen Personalien nicht preisgeben wollte. Ich wartete mit der Flucht auf einen günstigen Augenblick, unter anderem auf den Wechsel unseres Wachmanns. Trotz der schwierigen Bedingungen waren wir einigermaßen gesund, aber eines Tages wurden einige der Mitgefangenen plötzlich krank und mir gelang es, dem Wachmann vorzumachen, ich wäre auch krank. Unter Begleitung wurden wir mit dem Zug in einem gesonderten Waggon zum Arzt gebracht. Wenn ich mich recht entsinne, befand sich das Lazarett für Kriegsgefangene im Wasserturm in Morąg. Der Arzt in diesem Lazarett war ein Offizier der polnischen Armee, ein Kriegsgefangener wie wir. Es war ein sehr netter, gesprächiger Mensch, der mein Vertrauen weckte. Als ich für die Untersuchung meine Kleidung ablegte, sagte ich dem Arzt, ich wäre gesund. Er war überrascht und fragte nach dem Grund meines Besuchs. Ich verriet ihm mein Geheimnis und sagte, dass wir uns zu Fuß auf eine lange Reise machen würden und dass ich gerne stärkende Medikamente für meinen abgemagerten Körper bekommen wolle. Der Arzt fragte, wie weit diese Reise wohl sein würde. Ich sagte ihm, dass ich nach Podlasie gehen wolle, während die anderen in andere Richtungen ziehen würden. Er wurde nachdenklich und nach einem längeren Moment stellte er fest, dass er in Podlasie in Kupientyn Familie habe und auch gerne dort wäre, aber noch nicht zurück könne, denn er werde hier mehr gebraucht. Er meinte auch, dass es dort, wo ich hin wolle, sicher sei und solche wie ich nicht verfolgt werden, da dort die Gemeindevorsteher Leute zur Zwangsarbeit im Dritten Reich bestimmen. Er gab mir Vitamine und Arzneimittel und zum Abschied reichte er mir die Hand und sagte leise: „Gute Reise, Hauptsache Sie schaffen es bis Kongresspolen, von dort aus werden Sie schon klarkommen“. Diesen starken Händedruck empfand ich als Unterstützung für meine Entscheidung zur Flucht aus der deutschen Kriegsgefangenschaft und die Rückkehr nach Hause. Ich verließ die Arztpraxis und trat in den Flur. Dort saßen viele polnische Soldaten, aber mit keinem konnte ich sprechen, denn jede Gruppe hatte ihren Wachmann, der die Gefangenen beobachtete, um keine Kontaktaufnahme zwischen uns zuzulassen. Ich schloss mich meiner Gruppe an und begann über das Gespräch mit dem Arzt nachzudenken. Ich hatte gute aber auch schlechte Gedanken: wurde ich nicht zu lange untersucht im Vergleich zu den anderen Kranken, vielleicht hat der Wachmann Verdacht geschöpft deshalb. Ich war sehr nervös, aber die schlimmsten Befürchtungen hatte ich, als unser Wachmann in die Praxis des Arztes gebeten wurde, der mich untersucht hatte. In der Zeit, in der unser Wächter weg war, „betreute“ uns der Wachmann einer anderen Kriegsgefangenengruppe.

Nach meiner Rückkehr nach Baalau, spät in der Nacht, hielten wir einen Rat ab. Nach einer langen Diskussion beschlossen wir, dass Anfang Mai der günstigste Termin für eine Flucht sein würde. Das Wetter wird warm sein, die Bäume werden schon Blätter tragen und hohes Getreide wird es einfacher machen, sich während des Tages zu verstecken, denn laufen konnte man nur in der Nacht. Wir beschlossen, dass wir damit beginnen wollten verschiedene Sachen, die wir für den weiten, schwierigen und gefährlichen Weg brauchen, zu sammeln. Uns ging es vor allem um Verpflegung, aber auch um Gegenstände, die eine Flucht vom Dachboden ermöglichen würden. In unserer Situation konnten wir nur Brot für den Weg sammeln, aber die Beschaffung von nur einer zusätzlichen Schnitte Brot war äußerst schwierig, denn uns blieb nie Brot von Mahlzeiten übrig. Und wie sollten wir die eisernen Gitter herausbrechen, und wie vom Dachboden runterklettern?

Viel Hilfe und Güte fanden wir bei Herrn Rutkowski. Er war als Nachtwächter auf dem Landgut angestellt und sprach ziemlich gut Polnisch. Eines Tages nutzte er die Gelegenheit, als der Wachmann sich einen Moment lang entfernte, und sagte uns leise: „Habt keine Angst vor mir, ich bin zwar aus den Masuren, aber im Herzen bin ich Pole“. Er bat uns, niemandem etwas über seine Kontakte mit uns zu sagen, denn dafür drohte die Todesstrafe. Treffen mit uns waren schwer, denn er arbeitete nachts, wenn wir auf dem Dachboden eingeschlossen waren. Manchmal aber erschien er tagsüber auf dem Hof oder blieb länger nach seinem Nachtdienst, doch das passierte sehr selten. Er half uns so gut er konnte, machte uns Mut und ermutigte uns für ein schnelles Ende des Krieges zu beten. Er freundete sich mit uns an und wir betrachteten ihn als unseren ersten Freund im fremden Land. Wir erzählten ihm von unseren Plänen. Mit seiner Hilfe gelang es uns, bescheidene Brotvorräte für den Weg anzusammeln, denn er hinterließ uns an einem vereinbarten Ort sein bescheidenes Frühstück. Er besorgte uns auch eine Brechstange zum Herausbrechen der Fenstergitter und stellte eine Leiter unter eines der Fenster. Ihm verdanken wir es, dass eine Erfolgschance für unsere Flucht bestand.

So vergingen Tage, Wochen und Monate, und mit ihnen näherte sich der von uns herbeigesehnte Frühling. Wir glaubten, dass wir schon bald mit Gottes Hilfe frei sein werden, dass unserer Gefangenschaft und Verfolgung bald ein Ende gesetzt werden würde, dass wir zu unseren Familien zurückkehren und wieder für uns selber und für Polen leben könnten, für deren Freiheit wir noch kämpfen mussten. Wir legten verschiedene Fluchttermine fest, aber jedes Mal machte uns etwas einen Strich durch die Rechnung und der Fluchttag musste verschoben werden. Letztendlich war es dann soweit. Der lang ersehnte Tag war gekommen: der 23. Mai 1942. Diesen Tag werde ich niemals vergessen.

Wir gingen um 21 Uhr schlafen. Um diese Uhrzeit kam immer der Wachmann vorbei und während er Wache stand, mussten wir unsere Uniformen und Schuhe in den Flur bringen. Die Kleider lagen die ganze Nacht über zusammengefaltet vor der Tür der Leitwarte und wir durften sie erst morgens wieder abholen. Nachdem wir die Kleidung herausgebracht hatten, schloss der Wachmann die Eingangstür im Erdgeschoss ab und nahm den Schlüssel mit. So war es Tag für Tag, aber an diesem denkwürdigen Tag täuschten wir den Wachmann. Wir zogen uns wie jedes Mal aus, doch falteten wir lediglich unsere Hosen und Mäntel zusammen, behielten aber die Uniformhemden und langen Unterhosen für unterwegs bei uns. Der Wachmann bemerkte unsere List nicht, schloss die Tür hinter uns ab und ging zu seiner Leitwarte zurück. Wir warteten angespannt ab, bis er das Licht ausschaltete und in tiefen Schlaf versank. Wir knieten nieder und beteten zu Gott um Hilfe auf unserem Weg in die Freiheit. Bald schlug es 23 Uhr und wir entschlossen uns, unsere Flucht zu beginnen. Wir umarmten uns ein letztes Mal herzlich und wünschten uns gegenseitig viel Glück auf unserem Weg.

Zwei Häftlinge begannen die Gitter mit dem Brecheisen anzuheben, während wir anderen die Wolldecken in Stücke rissen und sie zusammenbanden, um eine lange Schnur daraus zu knüpfen, sodass wir nach unten klettern konnten. Um den Lärm beim Herausbrechen der Fenstergitter zu dämpfen, banden wir Decken um die eisernen Stangen. Mit dem von Herrn Rutkowski besorgten Stab versuchten wir einen Spalt zwischen dem Gitter zu schaffen, aber dieses wollte trotz unserer Anstrengungen nicht nachgeben. Es war fest in der Mauer verankert. Ungeachtet dieses ersten Misserfolges versuchten wir dasselbe mit dem zweiten Fenster. Zum Glück gelang es uns dieses Mal, das Gitter so weit zu verbiegen, dass man sich durch einen schmalen Spalt durchzwängen konnte und der Wachmann keinen Lärm hörte. Der Weg zur Freiheit stand uns nun offen. Wir warfen die aneinander gebundenen Decken nach draußen und banden die Schnur an den Gitterresten fest. Gemäß der von uns vorher vereinbarten Reihenfolge quetschten wir uns leise durch das geöffnete Gitter, ich kletterte als fünfter oder siebter durch. Als meine Füße den Boden berührten, fing ich an zu rennen. Ich schaute mich nicht mehr um, ich wollte so weit wie möglich von diesem verhassten Ort weg. Eine Zeit lang hörte ich hinter mir die Schritte eines Freundes, der mir nachrannte, aber nach einer Weile wurde alles still und ich blieb ganz alleine auf dem Weg. Ich lief langsamer, rannte noch ein kurzes Stück und blieb stehen. Ich ruhte mich aus nach diesem wilden Lauf und dachte kurz darüber nach, wo es jetzt langgehen sollte.

Nach einer kurzen Ruhepause machte ich mich weiter auf den Weg in Richtung meines Heimatortes. Mein Zuhause war weit entfernt und viele Gefahren lauerten auf dem Weg dorthin. Die Reise war äußerst mühsam. Barfuß und quer durch die Felder machte ich einen Bogen um jegliche Siedlung und irrte umher wie ein gejagtes Tier. Mit jedem Schritt näherte ich mich meinem Zuhause, meiner Familie. Tagsüber schlief ich im Getreide, das schon ziemlich hoch war und einen recht guten Schutz bot. Ich wanderte nur nachts und die Richtung bestimmte ich bei günstigem Wetter anhand der Sterne. Einige Male musste ich die Richtung ändern, denn nicht immer war das Wetter gut und es konnte einem schnell ein Fehler unterlaufen.

Nach einigen Nächten des Marsches in Dunkelheit über Felder und ausgetrocknete Erdbrocken hatte ich große offene Wunden an meinen Füße wie und jeder Schritt bereitete mir unheimliche Schmerzen. Jedoch war der Hunger noch schlimmer als der Schmerz. Das Brot, das wir so lange und mühsam zusammengerafft hatten, reichte nur für eine kurze Zeit. Ich ernährte mich von dem, was ich auf dem Feld fand: Sprossen, jungen Ähren. Ich freute mich sehr, wenn ich Plätze fand, an denen vorher Rübenmieten aufgehäuft gewesen waren. Dort lagen noch etwas Stroh und ein paar Stück angefaulte Rüben. Diese wenigen stinkenden Rüben waren mein erstes, üppiges Frühstück.

Eines Morgens bemerkte ich, dass sich mir eine Gestalt näherte. Ich versteckte mich noch tiefer im Dickicht und beobachtete die sich nähernde Person. Als sie bereits sehr nahe war, bemerkte ich die Sense auf ihrer Schulter. Es war ein Bauer auf dem Weg zur Feldarbeit. Ich beschloss, mich ihm zu zeigen. Als er mich sah, stand er wie versteinert da, ich sah die Angst in seinen Augen und ich bin nicht verwundert darüber: Ich war abgemagert, unrasiert, blutverschmiert, in Lumpen und Fetzen gekleidet und muss wohl mehr an ein Tier als an einen Menschen erinnert haben. Nach einem Moment kam er wieder zu sich und fragte, was ich hier tue und wer ich sei. Ich erzählte ihm von meiner Gefangenschaft und Flucht und dass ich sehr hungrig sei. Der Unbekannte war barmherzig, er hatte Mitleid mit mir und gab mir die Hälfte seines Frühstücks. Nach einigen Minuten des Gesprächs und nach der Mahlzeit forderte er mich auf, ihm zu folgen. Zur Sicherheit lief ich in einiger Entfernung hinter ihm. Er führte mich zum Haus seines Cousins, das in einer Ansiedlung etwas weiter weg von den Gebäuden im Dorf gelegen war. Mein Retter ließ mich in der Obhut dieses wohlwollenden Gastgebers und dessen Familie und ging selber zurück, um die Wiese zu mähen.

Es war ein ärmlicher Bauernhof, aber die Menschen waren sehr gastfreundlich. Ich konnte mich waschen, rasieren, erhielt Kleidung und Schuhe. Ich sah endlich wieder wie ein Mensch aus. Ich bekam zu essen, danach führte man mich in die Scheune, wo ich mich ausruhen konnte. Abends wurde ich zum Abendessen eingeladen. Nach dem Abendessen besuchten den Bauern ein paar Familienangehörige. Ich erzählte ihnen vom Schicksal eines Kriegsgefangenen, über die schlechten Bedingungen und die Flucht. Ich war glücklich, dass ich nach so vielen Tagen der Kriegsgefangenschaft, des Lagers und der Zwangsarbeit wieder unter meinen Landsleuten weilte. Ich erfuhr, dass ich noch 6 km bis zur Grenze, die das Deutsche Reich von Kongresspolen trennte, hatte. Sie warnten mich, dass es in dieser Umgebung gefährlich sei. Sie erklärten mir genau, wie man zur Grenze kam und wo man diese überqueren sollte.

Nach einem herzlichen Abschied von allen machte ich mich weiter auf den Weg. Ich war nicht mehr hungrig und ich erhielt Brot, Käse und eine Flasche Milch für unterwegs. Ich musste mich auch nicht mehr so sorgfältig verstecken. Ich traf oft gutmütige und mir wohlgesinnte Leute. Dank ihrer Hilfe gelang es mir, im Juni 1942, nach 34 Tagen des qualvollen Marsches, meinen Geburtsort Grochów zu erreichen.