IRENA CHRZANOWSKA
Erinnerungen aus Ostpreußen
Die Autorin wurde am 6. Februar 1926 geboren. Im August 1944 nahmen zurückweichende deutsche Truppen einen Teil der Bewohner des Dorfes Gostkowo (Landkreis Ostrów Mazowiecka), darunter auch die Autorin, gefangen. Sie wurden nach Królewiec (Königsberg) verschleppt und kam in ein Durchgangslager. Oft wurde sie zu Aufräumarbeiten oder zur Aushebung von Schützengräben eingesetzt. Im April 1945 wurde sie von den Russen aus Ostpreußen evakuiert. Sie war Zeugin von Gewalttaten an der Bevölkerung. Am 1. Mai 1945 kehrte sie nach Hause zurück.

Trennung von der Familie

Der 11. August 1944 war ein sonniger Tag. Von Osten her waren dumpfe Kanonenschüsse zu hören. In Gostkowo, im Heimatdorf meiner Mutter, ging das alltägliche Leben seinen gewohnten Gang. Die Anwesenheit deutscher Truppen sorgte zwar für Aufregung, aber die Hausbewohner bemühten sich, ihren Beschäftigungen ungestört nachzugehen.

Plötzlich wurde es laut auf dem Weg, der durch das Dorf führte. Weinen und Schreie von Menschen mischten sich in das Brüllen von Rindern und in das Blöken von Schafen, die von Deutschen hergetrieben wurden. Die deutschen Offiziere liefen auf dem Hof umher und erteilten ihren Soldaten Befehle. Zwei von ihnen drangen in unsere Wohnung ein. Meine Kusine Halina und ich versteckten uns im Kleiderschrank. Sie brüllten meine Mutter an, sie solle ihnen den Schlüssel zum Pferdestall geben. Sie drohten ihr, sie zu töten, wenn sie ihnen die Tür nicht aufschließe! Als ich das hörte, konnte ich mich nicht beherrschen und sprang aus dem Schrank, meine Kusine mir nach. Die Deutschen ergriffen uns, so wie wir waren, barfuß und nur mit leichten Kleidchen und gelben, wollenen Blusen bekleidet, und trieben uns zu den anderen Menschen hin. Unter ihnen war auch meine Mutter, die die Deutschen weinend anflehte, sie nach Hause zurückkommen zu lassen, weil sie dort ein kleines Kind und ihren kranken Mann zurückgelassen habe. Ich war damals 18 Jahre alt, mein Bruder war drei Jahre jünger.

Nach einigen hundert Metern wurde meine Mutter freigelassen, während man uns weiter forttrieb. Auf den Feldern zündeten die Deutschen das zu Garben gebundene Getreide an. Es war ja gerade Erntezeit. Die Bauern sahen, wie die Früchte ihrer Arbeit sowie ihr ganzes Hab und Gut vernichtet wurden, als die Flammen Felder und Gebäude ergriffen. Die dumpfen Kanonenschüsse und das Knistern des brennenden Strohs machten auf uns alle einen entsetzlichen Eindruck.

In der Nähe des Dorfes Milanowo wurde eine Pause angeordnet. In einiger Entfernung sah ich ältere Frauen auf einem Hügel sitzen. Ich überredete meine Kusine und meine Freundin Zofia dazu, uns von der Gruppe zu trennen, und uns zu den Frauen zu setzen. Die Frauen nahmen uns wie ihre Kinder auf. Sie banden uns Kopftücher um und legten uns dunkle Mäntel um, damit unsere grellgelben Blusen nicht zu sehen waren. Die Freiheit währte jedoch nicht lange. Vor uns erschien plötzlich ein deutscher Soldat zu Pferde. Er zerrte an meinem Mantel und schrie: „Wo ist deine Schwester?“ Meine gelbe Bluse hatte mich verraten. Er schlug mir ins Gesicht, und im selben Moment erblickte er meine Schwester. Natürlich trieb er uns sofort zurück, zu der Gruppe von Menschen, die sich am Weg ausruhten.

Wanderung ins Unbekannte

Wir gingen weiter, dabei ritt die ganze Zeit der Deutsche hinter uns her, der zuvor unseren Fluchtversuch vereitelt hatte. Wir gelangten ins kleine Städtchen Andrzejewo. Das Städtchen war menschenleer. Niemand starrte uns an, niemand war vor dem Haus mit irgendetwas beschäftigt. Wir wurden auf einen großen Platz zwischen den Häusern getrieben, auf dem wir die Nacht verbringen sollten. Da es unter uns ziemlich viele junge Mädchen und Frauen gab, nahmen die Männer auf der Erde Platz, und zwar so, dass sie einen Ring um uns herum bildeten, zum Schutz vor den Soldaten. Wir waren nahe der Front und alles konnte passieren.

Am frühen Morgen wurde das Signal gegeben, weiter zu marschieren, und zwar in Richtung Ostrów Mazowiecka, das 20 km von Andrzejewo entfernt war. Wir waren sehr hungrig und durstig. Immer derselbe Deutsche folgte uns mit seinem Pferd auf Schritt und Tritt und beobachtete all unsere Bewegungen, so dass wir uns auf keinen Fall von der Gruppe lösen konnten.

Die Bäume am Wegrand waren einige Meter über dem Boden abgesägt und boten einen kläglichen Anblick. Daraus schlossen wir, dass die Deutschen dabei waren, sich auf diesem Gelände auf einen direkten Kampf vorzubereiten.

Gleich hinter einem mit Wasser gefüllten Graben war ein Obstgarten und einige der Bäume lockten uns mit ihren Früchten. Ich hob zwei Birnen auf, eine davon gab ich Halina, die andere aß ich selbst mit großem Appetit. Danach trank ich etwas Wasser aus dem Graben. Meine Schwester begann, über Schmerzen in ihren Füßen zu klagen. Wahrscheinlich deshalb, weil sie den ganzen Weg barfuß gegangen war. Ich selbst verspürte noch keinen Schmerz.

Wir wurden hinter einen Stacheldraht getrieben, wo einige Baracken standen. Daneben, auch hinter einem Stacheldraht, waren russische Kriegsgefangene eingesperrt. Plötzlich überfielen mich heftige Bauchschmerzen und ich fühlte mich völlig kraftlos. Die Schmerzen waren fürchterlich! Während der ganzen Nacht bekam ich Hilfe von einem jungen Mann; er trug mich mehrmals huckepack zur Toilette, die einige hundert Meter entfernt war. Schließlich wurde ein deutscher Arzt geholt, der mir irgendwelche Tabletten gab. Ich schluckte sie und sie halfen mir. Ich fühlte mich gleich besser. Meine Kusine litt aber immer noch an den Schmerzen in ihren Füßen.

Nach einigen Tagen verließen wir unser von Stacheldraht umgebenes Gefängnis. Da ich immer noch zu schwach war, um zu Fuß zu gehen, und da auch meiner Kusine die Füße schmerzten, wurden wir in einem Pferdewagen gefahren. Alle übrigen Personen gingen zu Fuß. Schließlich erreichten wir die Eisenbahngleise in Ostrołęka. Wir wurden in Viehwaggons verladen. Unter uns waren auch Leute aus anderen Orten – größtenteils aus Łochów. Jene Leute hatten Bettwäsche und Geschirr dabei ‐ wir hatten nichts! In der Nähe der Station stand eine Feldküche. Einer aus der Gruppe rief: „Essen wird ausgegeben!“ Ich wurde hungrig. Da wir kein Gefäß dabei hatten, konnten wir nur auf die Hilfe anderer zählen. Eine Frau gab uns ein wenig von ihrer Suppe, damit wir uns stärken konnten. Obwohl ich gewisse Bedenken gegen die Suppe hatte, probierte ich sie. Ich hatte ja längere Zeit nichts gegessen. Die Erbsensuppe schmeckte gut und schadete mir nicht. Ich fühlte mich gut.

Weitere Reise ins Unbekannte

Nach einigen Tagen wurde eine Lokomotive an die Waggons angehängt, welche dann verschlossen wurden. Der Zug setzte sich in Bewegung. Wir wussten nicht, wohin wir transportiert wurden. Wir fuhren allerdings nur dann, wenn die Strecke frei war. Aber wir sahen keine Truppentransporte an die Front fahren. Und die Front kam immer näher…

An der Station in Allenstein blieb der Zug stehen. Durch Ritze in den Wänden des Waggons sahen wir Menschen auf einen Personenzug warten. Eine deutsche Frau sagte zu einer anderen, man sollte uns zu Fuß treiben, anstatt uns mit einem Zug zu transportieren.

Die Nächte waren schon ziemlich kühl. Wir saßen auf einem Strohlager, dicht aneinander gedrückt, damit uns wärmer wurde. Wir waren sehr schmutzig, wir hatten uns seit dem Aufbruch kein einziges Mal gewaschen. Es juckte uns am ganzen Körper. Uns war überhaupt noch nicht klar geworden, dass es Läuse waren, die den Juckreiz verursachten. Und wir spürten im Grunde genommen keinen Hunger.

Nach mehr als zehn Tagen erreichten wir das Ziel unserer Reise, und zwar Königsberg. Wir wurden an einen Ort gebracht, wo die Abfälle der ganzen Stadt gesammelt wurden. Überall war ein scheußlicher Gestank zu spüren. Auf dem Gelände des Lagers standen über ein Dutzend Baracken, in denen wir vorübergehend wohnen sollten. Als die Nacht kam, stellte sich jedoch heraus, dass es unmöglich war, in den Baracken zu übernachten, weil die Holzgestelle der Betten völlig verwanzt (braunrot von Wanzen) waren. Wir beschlossen, die Nacht unter freiem Himmel zu verbringen. Alle legten sich nebeneinander auf die Erde. Wer eine Woll‐ oder Daunendecke hatte, deckte sich damit zu, um nicht zu frieren. Uns nahm eine ältere Frau in die Arme. Der Schlaf dauerte aber nicht lange, weil Ratten auf den Liegenden herumliefen. Das war entsetzlich! Als es zu dämmern begann, waren wir immer noch wach, weil wir die ganze Zeit darüber nachdachten, was das Schicksal noch für uns bereithalten würde. Wir waren weit weg von unserer Familie und wussten nicht einmal, ob sie alle noch lebten oder ob unser Dorf vielleicht niedergebrannt worden war.

Gegen Mittag wurde es rege am „Müll“. Es kam eine große Gruppe Deutsche – es waren Bauern. Plötzlich kamen zwei junge Männer zu uns. Sie fragten uns auf Polnisch, woher wir gekommen waren, und was es dort Neues über Polen zu hören gab. Es stellte sich heraus, dass sie schon längere Zeit keinen Kontakt mehr zu ihren Familien in Polen hatten, weil in den Gebieten, aus denen sie stammten, Kampfhandlungen stattfanden. In Königsberg waren sie zur Zwangsarbeit im Hafen eingesetzt worden. Als sie unsere müden Gesichter und unsere schmutzigen Hände und Füße sahen, boten sie uns an, sie zu ihrem Quartier im Hafen zu begleiten, damit wir uns waschen und etwas essen könnten. Wir hatten im Grunde nichts dagegen. Wir waren der Meinung, dass uns dort kaum etwas Schlimmeres würde passieren können, deshalb nahmen wir ihr Angebot an. Der Weg dorthin war nicht weit.

Nach dem Bad fühlten wir uns großartig. Als wir aber unsere Kleider ausgezogen hatten, erschraken wir: In den Nähten unserer Unterwäsche und an der Oberbekleidung wimmelte es von Insekten. Da wir keine anderen Kleider hatten, mussten wir die, die wir hatten wohl oder übel wieder anziehen. Unsere neuen Bekannten brachten uns zum „Müll“ zurück. Sie sagten uns, dass wir sicher oft Hunger verspüren würden, falls wir in der Stadt bleiben würden. Aber wenn sie uns aufs Land mitnehmen würden, würden wir dort nicht mehr zu hungern brauchen. Außerdem wäre es dort natürlich auch weniger gefährlich für uns. In letzter Zeit gäbe es in der Stadt nämlich immer mehr Luftangriffe und Bombardements. Sie baten uns, ihnen zu schreiben, wo wir letztendlich landen würden und gaben uns ihre Adresse. Wir nahmen sie, obwohl wir nicht sicher waren, ob wir davon Gebrauch machen würden.

Auf dem Platz blieben nur wenige Menschen übrig. Aufs Land nahmen die Bauern ganze Familien mit, einzelne Personen wurden niemandem zugeteilt. Die Menschen wurden ausgewählt wie auf einem Sklavenmarkt. Schließlich nahmen uns zwei junge Frauen mit, von denen eine Polnisch sprechen konnte. Zuerst wurden wir in einen Baderaum geführt, damit wir unsere Läuse loswerden konnten. Dort wurden unsere Kleider und Unterwäsche zur Desinfizierung gebracht, während wir zum Bad geschickt wurden. Das war eine große Erleichterung! Vom ständigen Kratzen hatten wir schon sehr viele Wunden am ganzen Körper!

Nach diesen Maßnahmen führten uns die jungen Frauen zu einem umzäunten Gebäude in der Berliner Straße, das sich ganz nahe bei einem Friedhof befand. Dort standen drei dreistöckige gemauerte Gebäude und einige Dutzend Holzbaracken. Das Gelände wurde von uniformierten Wachmännern bewacht. In einem der Gebäude befand sich ein Militärstab, ein anderes war für Frauen verschiedener Nationalitäten (Polinnen, Ukrainerinnen, Französinnen und andere) bestimmt, und das dritte bewohnten Männer.

Lager Berta

So hieß das Zwangsarbeiterlager, in das wir gebracht worden waren. Wir wurden im zweiten Gebäude einquartiert, und zwar in der Stube 9 im zweiten Stock. In der Mitte unserer Stube stand ein Tisch mit ein paar Schemeln. Auf der einen Seite befanden sich Etagenbetten mit Strohsäcken und Wolldecken und gegenüber standen fünf kleine Schränke – je ein Schrank für zwei Personen. Die Stube wurde durch eine Glühbirne erleuchtet. Das Fenster war mit einem dunklen Vorhang verdeckt, der während Luftangriffen kein Licht durchließ. Die Aufsicht über die Insassinnen hatte eine Lagerführerin namens Hanoski (wobei ich nicht sicher bin, ob ihr Name so geschrieben wird).

In der Stube wohnten neun Personen. Im Vergleich zu dem, was wir bisher erlebt hatten, seitdem man uns aus unserem Elternhaus weggeholt hatte, spürten wir jetzt eine gewisse Erleichterung. Doch der erste Kontakt mit den Frauen, die mit uns das Zimmer teilten, war nicht besonders freundlich: Die bisherigen Insassinnen betrachteten uns als Eindringlinge, die ihnen einen Teil ihrer Rationen wegessen würden. Das war sehr unangenehm!

Die Lebensmittelrationen waren tatsächlich sehr klein. Anfangs reichten sie jedoch für uns aus, weil nach drei Wochen Reisen und Hungern unsere Mägen so geschrumpft waren, dass wir nicht viel zu essen brauchten. Der an unsere Kleidung genähte Buchstabe „P“ war eine Art Ausweis im Lager, für den wir uns nicht im geringsten schämten. Wir trugen ihn mit erhobenem Haupt.

Am zweiten Tag unseres Aufenthalts im Lager traten wir zum Appell an. Uns wurden Nummern zugewiesen, die im Lager unentbehrlich waren. Am Anfang wurden wir einer Gruppe zugeteilt, die damit beschäftigt war, ein Feuerschutzbecken auf dem Lagergelände zu graben. Die Arbeiten wurden von einem Offizier namens Wetter beaufsichtigt. Da wir Neuankömmlinge waren, sah man unseren Gesichtern die Müdigkeit an, außerdem waren wir sichtlich abgemagert. Obendrein hatten wir nach wie vor nur leichte Kleidung und liefen barfuß herum.

Ein Offizier gab uns eine Schaufel. Er stellte uns an den oberen Teil einer Grube, damit wir mit der Schaufel Erde von den Personen annahmen, die tiefer unten gruben. Unter den Frauen, die an dem Becken arbeiteten, waren vor allem Ukrainerinnen. Die Arbeit war für uns sehr schwer, aber der Offizier war zum Glück recht gutmütig – er trieb uns nicht zu größerer Anstrengung an. Am ersten Tag brachte er uns nach Arbeitsende in eine der Baracken, in der große, schön geordnete Stapel Militärkleidung und Stiefel lagen. Dort durften wir uns braune Mäntel sowie Hosen und Stiefel aussuchen, und sogar auch hausschuhähnliche „Laufschuhe“, wie sie genannt wurden. Wir waren nun einigermaßen anständig gekleidet.

Während der nächsten Tage froren wir bei den Morgenappellen nicht mehr so wie beim ersten Mal. Die Arbeit an der Aushebung des Beckens dauerte noch mehr als zehn Tage. Die Lebensmittelrationen waren anfangs ausreichend. Für einen ganzen Tag bekamen wir ein kleines Stück Brot und ein winziges Stück Margarine. Das Mittagessen, das wir nach Arbeitsende in der Kantine zu uns nahmen, bestand hauptsächlich aus Kohlrübensuppe oder Suppe mit Graupen. Manchmal wurden uns auch Pellkartoffeln mit einer süß schmeckenden Soße gegeben. Die Kartoffeln waren oft angefault und eigentlich kaum genießbar. In derselben Kantine aßen auch deutsche Offiziere, aber ihre Speisen waren unvergleichlich besser.

Als die Arbeit an der Aushebung des Beckens zu Ende war, wurden wir zur Sortierung von Kleidungsstücken, Stiefeln sowie von Patronengürteln, Pistolentaschen oder ähnlichem abkommandiert. All das Zeug wurde von der Front hergebracht. Die Kleider waren meistens schmutzig, blutverschmiert, zerrissen oder von Kugeln zerfetzt. Die schmutzigen Sachen wanderten in die Waschküche, und die zerrissenen in die Nähwerkstatt. In diesen Einrichtungen arbeiteten Polen und Menschen anderer Nationalitäten, darunter auch Deutsche, die zum Kampf an der Front ungeeignet waren. Dort arbeiteten mit uns auch deutsche Frauen, die in erster Linie kontrollierten, ob wir die uns zugewiesene Arbeit auch richtig erledigten.

Im Laufe der Zeit spürten wir den Hunger immer mehr. Unsere Mitbewohnerinnen holten sich oft zusätzliches Essen aus der Stadt. Viele Zwangsarbeiter waren in einem Betrieb in Königsberg beschäftigt, sie hatten also Kontakte zu verschiedenen Leuten und damit die Möglichkeit, sich Essen zu besorgen.

Halina und ich beschlossen den Männern, die wir im Hafen kennengelernt hatten, einen Brief zu schreiben. Wir beschrieben ihnen darin unsere Situation und berichteten, dass wir immer hungriger wurden. Wir schickten den Brief ab, ohne wirklich zu hoffen, dass sie ihn auch bekommen würden. Nach ungefähr zwei Wochen teilte uns ein Wachmann mit, dass draußen am Tor zwei Männer stünden, die mit den neu aus Polen angekommenen Schwestern sprechen wollten. Wir liefen schnell zum Tor und erkannten sofort unsere Bekannten vom „Müll“ wieder. Es war eine große Freude für uns! Sie reichten uns zwei Taschen durch den Zaun hindurch und baten uns, diese zu entleeren und sie ihnen gleich leer zurückzubringen. Wir wussten nicht, womit wir uns bei ihnen für ihr gutes Herz revanchieren sollten…Wir füllten den kleinen Schrank in unserer Stube mit dem Inhalt der Koffer. Wir hatten Brot, Margarine, Marmelade, Konserven und Lebensmittelmarken für Kuchen bekommen. Ich kann mich nicht erinnern, ob wir später noch einmal eine derartige Hilfe bekommen haben.

Da wir in den Baracken arbeiteten, hatten wir Zugang zu verschiedenen Dingen, die für die Front notwendig waren. Eines Tages beschlossen wir, zwei wollene Pullover zu organisieren, um sie als Dank den jungen Männern zu schenken. Sie hatten uns schon bei unserer ersten Begegnung erzählt, dass sie bei ihrer Arbeit im Hafen zwar genug zu Essen, aber nur unzureichende Kleidung hätten. Deshalb hielten wir es für richtig, ihnen die Pullover zu schenken – der Winter stand schließlich schon vor der Tür.

Die Pullover aus unserer Stube mitzunehmen war leicht. Viel schwieriger war es dagegen, sie zum Tor hinauszutragen und sie unseren jungen Bekannten mitzubringen. Das war sehr riskant. Wir hatten keinen Schein, der uns erlaubte, das umzäunte Gelände zu verlassen. Wir warteten einen günstigen Augenblick ab, als kein Wachmann da war und schlichen uns heimlich auf die Straße hinaus. Niemand bemerkte uns. Wir hatten die Adresse, also gingen wir zum Hafen. Die jungen Männer trafen wir in ihrem Quartier an. Sie waren sehr überrascht. Wir zogen die Pullover aus und gaben sie ihnen als Dank für ihre Freundlichkeit. Aber anstatt uns dafür zu danken, machten sie uns klar, wie groß die Gefahr war, der wir uns dabei aussetzten, da es uns ja verboten war, den Waldbereich zu verlassen. Wenn wir erwischt worden wären, dazu auch noch mit Armeepullovern, hätten wir dafür in ein Konzentrationslager kommen können. So etwas kam nie wieder vor. Die jungen Männer sollten wir auch nie wiedersehen. Wahrscheinlich wurden sie zu Schanzarbeiten verschickt, weil die Front immer näher an Königsberg heranrückte.

Der Winter war gekommen. Zu Weihnachten beschäftigte man uns damit, die Militäroberbekleidung weiß anzustreichen. Das war eine sehr mühsame Arbeit, die Genauigkeit erforderte. Immer wenn die Deutsche, die unsere Arbeit beaufsichtigte, eine ungenau angestrichene Stelle bemerkte, brüllte sie uns fürchterlich an und gab uns das Kleidungsstück zur Nachbesserung zurück.

Wir wurden auch zur Aushebung von Schützengräben um Königsberg herum eingesetzt. Wir wurden sehr früh geweckt, als es noch dunkel war. Wir gingen durch die Stadt bis zur Eisenbahnstation und sangen polnische Lieder. Meistens waren das polnische Nationallieder. Die Deutschen reagierten nicht darauf. Wahrscheinlich ahnten sie, dass ihr Ende nahe war. Wir für unseren Teil taten bei der Aushebung der Schützengräben häufig nur so, als ob wir grüben. Oft verließen wir unseren Arbeitsplatz unter dem Vorwand, dass wir unsere Notdurft verrichten müssten. Auch dann, wenn wir die Kleidung anstrichen, liefen wir oft weg, um uns auf dem Dachboden zu verstecken. Stundenlang lagen wir dort unter dem Dach, obwohl wir natürlich Riesenangst hatten. Auf dem Dach des Gebäudes befand sich ein Beobachtungsposten, der oft von Soldaten betreten wurde, unsere Angst war also durchaus begründet. An den Abenden beobachteten wir vom Dach aus leuchtende Raketengeschosse von Stalinorgeln. Sie flogen am Himmel wie Feuerwerke und erfüllten unsere Seelen mit Freude. Wir hofften, bald nach Hause zurückzukehren…

Der Schrecken der Bewohner unserer Baracke war die schon erwähnte Lagerführerin Hanoski. Sie platzte oft zur Abendzeit in die Stube herein, um zu kontrollieren, ob nach 22 Uhr die Lichter aus waren. Der Lagerführer der Baracke, in der Männer wohnten, war angeblich weniger streng.

Das Fehlen jeglicher Nachrichten aus Polen führte dazu, dass wir die Sehnsucht nach unserer Familie und die Besorgnis wegen der Ungewissheit, ob es ihr gut ging, durch Magie zu lindern versuchten. Im Nebenzimmer wohnte eine junge Frau, die Geister zu beschwören wusste. Durch ihre okkulten Fähigkeiten erfuhr ich von ihr, dass meine Eltern immer noch lebten und dass der Name meines zukünftigen Mannes Jerzy sein würde (das hat sich wirklich bewahrheitet!).

Zu diesen spiritistischen Sitzungen pflegte auch die stellvertretende Lagerführerin zu kommen. Sie war ganz anders als Hanoski, sowohl in ihrem Benehmen als auch im Kontakt mit anderen Menschen.

Die Kälte setzte uns immer mehr zu. Wir hatten zu wenig Brennmaterial, um mit dem Ofen die ganze Stube zu heizen. Aber wir fanden eine Lösung: Zwischen der Friedhofsmauer und unserem Gebäude wurden Kohlen gelagert, die von einem uniformierten Deutschen bewacht wurden. Eine unserer Aufgaben beim Sortieren der Sachen, die von der Front kamen, war es, deren Taschen zu leeren. Oft fanden wir darin Zigaretten oder Zigarren, mit denen wir dann den Wachmann bezahlten. Als Gegenleistung erlaubte er uns von Zeit zu Zeit, unsere Kanne mit Kohlen zu füllen. Die Kanne ließen wir aus dem Fenster an einer Schnur herunter, wir füllten sie mit Kohlen und zogen sie bis zum zweiten Stock zum Fenster wieder herein. So brauchten wir nicht zu frieren. Und wieso an einer Schnur? Wie ich schon beschrieben habe, war die Lagerführerin allgemein gefürchtet, also konnten wir die Kohlen nicht einfach so die Treppe hinauftragen.

Halina wurde in die Küche versetzt. Anfangs fühlte ich mich einsam, aber bald zeigte es sich, dass ihre Arbeit dort unsere Verpflegungsprobleme löste. Halina brachte jeden Tag ein Stück gekochtes Pferdefleisch mit. Sie wickelte es in Papier ein und steckte es sich in die Tasche. Ich aß es jedes Mal mit großem Appetit auf. Fleisch war eigentlich nur für Deutsche bestimmt.

Was mich angeht, so war ich bei der Arbeit ziemlich ungehorsam. Ich lehnte es ab, nach getaner Arbeit aufzuräumen, wenn deutsche Frauen es mir befahlen. Sie beschwerten sich dann über mich bei dem verantwortlichen Offizier, aber oft brauchte ich trotzdem nicht ihrem Befehl nachzukommen. Ich wollte Gerechtigkeit – die deutschen Frauen sollten auch keine Unordnung hinterlassen. Das passive Verhalten des Offiziers deutete darauf hin, dass das Ende der deutschen Herrschaft immer näher kam. Jeden Abend beobachteten wir sowjetische Raketen, die aus Stalinorgeln abgefeuert wurden. Deutlich hörten wir Befehle, die von Russen über Lautsprecher durchgegeben wurden. Bei Luftangriffen auf Königsberg heulten Sirenen. Die Deutschen flüchteten sich in Keller, während wir Ausländer unsere Baracken verließen. Die Deutschen ärgerten sich über uns und sagten, wir würden damit noch Unheil über sie und uns heraufbeschwören.

Zum Schluss setzte man mich dazu ein, Pakete in Waggons, Lastwagen oder auf Pferdewagen zu laden. Die Arbeit war sehr schwer. Es arbeiteten daran einige Frauen unter Aufsicht eines litauischen Offiziers namens Nowak. Die Waren wurden meistens von Polen abgeholt. Jedes Mal, wenn Nowak einen Polen erkannte, geriet er in große Wut. Er ergriff dann einen Stock oder einen ähnlichen harten und scharfen Gegenstand und stürzte sich auf ihn, sicher mit der Absicht, ihm etwas anzutun. Frauen gegenüber zeigte er aber kein aggressives Verhalten.

Die Luftangriffe wurden immer intensiver. Es wurden Bomben sowie Flugblätter abgeworfen, die zur Kapitulation aufriefen. Darin wurde gedroht, die Stadt würde anderenfalls dem Erdboden gleichgemacht werden. Deutsche Behörden reagierten darauf, indem sie an Gebäudemauern Plakate anklebten, auf denen sowjetische Soldaten zu sehen waren, wie sie Frauen ermordeten und ihnen die Brüste abschnitten. Von der Front her waren immer wieder russische Lautsprecher‐Aufrufe zu hören. Wir waren immer sicherer, dass das Ende der deutschen Herrschaft kurz bevorstand. Wir wussten nur nicht, was dann aus uns werden würde… Die Frauen erzählten sich verschiedene Gerüchte, nach denen die Deutschen uns auf dem Seeweg zu evakuieren beabsichtigten. Das hörte sich entsetzlich an, weil anderen Gerüchten zufolge die Gewässer der Bucht und der ganzen Ostsee vermint wären. Ein Glück, dass es letztendlich nicht dazu kam. Die Deutschen hatten einfach keine Zeit dazu, nachdem sowjetische Truppen in die Vororte der Stadt eingedrungen waren.

Die Offensive schritt weiter fort. Die Deutschen öffneten ihre Lagerhäuser; dort konnte man sich alles holen, was man wollte. Manche nutzten diese Gelegenheit, aber dazu brauchte man Nerven wie Drahtseile! Andere suchten Zuflucht in den Kellern unseres Gebäudes. Sogar Offiziere flüchteten sich zu uns. Bombenexplosionen und Schüsse wollten nicht aufhören. Das Gebäude, im dem sich ein Stab befand, wurde völlig zerstört, die Baracken standen in Flammen. Auch Offizier Wetter fand Zuflucht bei uns Polen. Wir hassten ihn nicht, weil er uns – wie gesagt – immer gut behandelt hatte. Er bekam von uns sogar Zivilkleidung, was es ihm ermöglichte der sowjetischen Gefangenschaft zu entgehen. Nowak dagegen, wie wir später erfuhren, wurde erhängt. Die Lagerführerin entkam.

Die ganze Zeit wurden Straßenkämpfe ausgetragen. Man hörte Gewehrschüsse und Explosionen von Granaten. Schließlich betraten sowjetische Soldaten das Lagergelände. Sie kamen in den Keller herunter und riefen auf Russisch: „Wer ist da?“, „Habt ihr Schuhe und Uhren?“. Es waren auch russische Zurufe „Hände hoch!“ zu hören. Man jagte uns alle aus dem Keller hinaus. Beim Hinauslaufen bemerkten wir im dritten Stock unseres Gebäudes deutsche Soldaten, die von einer Ecke her mit ihrem Maschinengewehr in unsere Richtung zielten. Aber wir kamen mit dem Schrecken davon. In jenem Augenblick träumte ich nur noch davon, dass Gott uns erlauben würde, aus dieser Hölle heil herauszukommen und lebend nach Hause zurückzukehren.

Der 6. April 1945

Die Russen führten uns aus dem Lagergelände hinaus. Alles ringsherum brannte . Sie befahlen uns, hinter die Brücke über den Pregel zu fliehen. Geschosse trafen ins Wasser und donnerten über unsere Köpfe hinweg. Ein Glück, dass die Brücke noch nicht zerstört worden war. Die Deutschen verteidigten sich die ganze Zeit in einem Bunker. Über uns flogen Flugzeuge herum und wir waren dabei zu fliehen. In Gräben lagen viele tote und verletzte Menschen, aber auch tote Pferde. Die Verletzten baten uns um Hilfe, aber wir konnten nichts für sie tun. Das war entsetzlich! Wenn über unseren Köpfen Geschosse explodierten, warfen wir uns alle wie auf Kommando zu Boden. Ein Geschoß zerplatzte ganz in unserer Nähe und schüttete Erde über Maria. Sie schrie, sie wäre verletzt, aber zum Glück war sie es nicht – sie war nur in Panik geraten.

Wir entfernten uns einige Kilometer von der Stadt. Wir waren insgesamt einige hundert Personen. Außer uns Polen waren da alte deutsche Männer und junge deutsche Frauen, Zigeuner sowie Menschen anderer Nationalitäten. Wir erreichten einige Gebäude, die ein wenig wie Hangars aussahen. Was wir dort drinnen vorfanden, ist schwer zu beschreiben. Unzählige getötete Soldaten und tote Pferde. Wir zogen uns schnell zurück... Auch auf den Feldern lagen verwesende Leichen gefallener Soldaten.

Die Nacht verbrachten wir in einem Fabrikgebäude. Wir legten uns auf Tische in der Mitte des Raumes und unter den Tischen versteckten sich junge deutsche Frauen. Maria wollte unbedingt in den Korridor gehen, um etwas Wasser zu trinken. Ich wollte sie davon abhalten, indem ich ihr klarzumachen versuchte, dass das Wasser vergiftet sein könne. Über die Gegend war ja schließlich die Front hinweggerollt. Plötzlich stieß uns jemand von der Treppe ins Erdgeschoß. Zwei Soldaten ergriffen Maria und schleppten sie davon, während ich mich an der Pritschenklappe eines Lastwagens festklammerte und zu schreien anfing: „Hilfe!“ Ich schrie so laut und hielt mich so an der Klappe fest, dass plötzlich jemand zu schießen begann und so die Angreifer wegjagte. Sonst hätte das tragisch für uns enden können. Der Mann, der uns durch Schüsse gerettet hatte, rief uns dann zu, wir sollten zu ihm kommen. Aber wir waren von dem Vorfall so erschreckt, dass wir ihm nicht trauten und schnell ins Gebäude zurückliefen. Maria war nichts passiert – sie war so dick bekleidet, dass sie aus der ganzen Situation heil herausgekommen war. Wir konnten nicht schlafen, aber das konnte niemand. Die Soldaten kamen immer wieder und holten unter den Tischen die verängstigten deutschen Frauen hervor, und zwar unter dem Vorwand, dass deren Papiere kontrolliert werden müssten. Sie kamen weinend zurück, oft in zerrissenen Kleidern. Die Polinnen wurden nicht angerührt.

Am nächsten Tag machten wir uns wieder auf den Weg. Die darauffolgende Nacht verbrachten wir in einem Gefängnisgebäude. Diesmal schliefen wir auf Pritschen, mehrere Personen auf je einer Pritsche. Wir waren sehr müde. Wir fragten die Soldaten, wohin sie uns brachten. Nach Białystok, antworteten sie. Dort würden wir angeblich Ausweispapiere erhalten und jeder von uns würde dann seines Weges gehen können.

Danach ruhten wir uns meistens am Rande eines Waldes aus. Die Nächte verbrachten wir auch im Wald, obwohl es kalt war. Die Russen zündeten ein Feuer an, und wir wärmten uns daran, indem wir ihm zuerst das Gesicht, und dann den Rücken zudrehten. Eines Tages machten wir Halt in einem Ort, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnere. Es waren viele Truppen da. Wir wurden vor einem Gebäude versammelt und der Reihe nach hineingelassen. Dort wurde uns befohlen, dass wir uns nackt ausziehen sollten. Ein Soldat in einem weißen Kittel tauchte einen Pinsel in irgendeine Lösung und bestrich mit diesem Zeug jeden von uns unter den Achselhöhlen und auch tiefer unten. Besonders für uns Frauen war das sehr demütigend, weil draußen Soldaten standen, die uns durch Fenster ohne Vorhänge lachend anstarrten. Wir wurden so lange dieser Behandlung unterzogen, bis wir alle desinfiziert worden waren. Dann setzten wir unseren Weg fort. Täglich legten wir zu Fuß ungefähr 25 Kilometer zurück. Die ganze Zeit hörten wir Gewehrschüsse.

In den meisten größeren Orten standen Feldküchen, wo warmes Essen ausgegeben wurde. Dort wurde immer nach Leuten gesucht, die man zum Kartoffelschälen anstellen konnte. Ich erinnere mich noch daran, dass ich immer Pech hatte, weil ausgerechnet ich stets für diese Arbeit ausgesucht wurde. Die Männer wollten, dass uns das erspart bliebe und meldeten sich freiwillig zur Arbeit in der Küche. Keiner von uns hatte Vertrauen zu den sowjetischen Soldaten. Meistens standen sie unter Alkoholeinfluss.

Eine Nacht verbrachten wir in einem Dorf. Dort gab es keine Bewohner mehr, die Häuser waren leer und verlassen. Halina und ich betraten einen Dachboden. Dort stand ein Bett mit Bettwäsche. Als wir die Daunendecke zurückgeschlagen hatten, sahen wir in dem Bett eine tote Frau liegen. Wir liefen sofort weg. Danach suchten wir uns nur noch in Scheunen einen Ruheplatz, da wir jenes traurige Bild stets vor Augen hatten.

Wieder in Polen

Nach vielen Strapazen erreichten wir endlich die polnische Grenze von vor dem Zweiten Weltkrieg. Danach erreichten wir Grajewo. Für eine Nacht wurden wir in einem Schulgebäude untergebracht. Wir waren ungefähr hundert Personen. Auf dem Weg zu der Schule wurden wir von einer Frau angesprochen, die uns sagte, dass die Menschenkolonnen, die jetzt von den Russen nach Białystok geschleppt wurden, später nach Sibirien deportiert werden würden. Wir täten also gut daran, uns von der Gruppe heimlich abzusetzen und auf eigene Faust den Weg nach Hause zu finden. Die Frau bot uns ihre Hilfe an und gab uns ihre Adresse für den Fall, dass wir bei ihr mal unterkommen wollten. Wir beschlossen, ihr Angebot anzunehmen. Maria, Janka, Zofia, Halina und ich, wir alle wohnten nämlich nicht weit weg voneinander. Bis nach Białystok hätten wir aber noch einige Dutzend Kilometer zu Fuß zurücklegen müssen. Es hatte also keinen Zweck, mit der ganzen Gruppe von Menschen weiter zu marschieren.

In der Nacht verließen wir das Schulgebäude und versteckten uns im Gebüsch. Unsere Wanderung auf eigene Faust begannen wir schon am frühen Morgen. Wir hatten keine Ausweispapiere. Meine Freundinnen trugen kleine Rucksäcke, während ich nur ein kleines Köfferchen hatte, sonst nichts. Wir kamen zum Polnischen Roten Kreuz, wo wir eine Bescheinigung darüber erhielten, dass wir von Zwangsarbeiten in Ostpreußen zurückgekommen waren. Da wir schon sehr müde waren, folgten wir der Einladung der Frau, die wir in Grajewo kennengelernt hatten.

In ihrer Wohnung herrschte große Unordnung. Auf Betten lagen Stapel von Daunendecken und Kissen, die wahrscheinlich gestohlen waren. Die Frau gab uns eben dieses Bettzeug zum Schlafen. Wir schliefen bis zum Abend. Dann zogen wir uns um und beschlossen, einen Spaziergang zu machen, um die Stadt zu erkunden. Wir glaubten, es könnte uns nichts mehr passieren, da wir ja im freien Polen wären. Leider sollte es anders kommen... Niemand hatte uns davor gewarnt, abends und nachts durch die Stadt zu gehen. Das war aber streng verboten, weil russische Behörden eine nächtliche Ausgangssperre verhängt hatten.

Wir hatten uns schon etwas vom Haus entfernt, als wir plötzlich den Befehl „Hinlegen!“ hörten. Ich dachte, das wäre ein Scherz und brach unwillkürlich in Gelächter aus. Aber dann fielen Schüsse. Ein paar russische Soldaten ergriffen uns und trieben uns in ein Gebäude mit Kellern hinein. Die ganze Nacht lang brachte man verschiedene Personen dorthin, meistens Betrunkene, aber auch Prostituierte. Im Keller saßen wir in der Hocke bis zum Morgen, dicht aneinander gedrückt und verängstigt. Am frühen Morgen kam ein Soldat und führte uns in ein Gebäude, wo Soldaten einquartiert waren. Dort wurde uns befohlen, den Fußboden sauber zu waschen. Natürlich weigerte ich mich, das zu tun, wodurch ich meine Situation nur noch verschlimmerte. Die Mädchen wurden nach getaner Arbeit entlassen, aber ich wurde zurückbehalten. Man wies mich auch noch an, den Hof sauber zu fegen. Vor Ärger und Ratlosigkeit brach ich in Weinen aus. Ein vorübergehender Mann bemerkte das und erklärte sich bereit, den Hof für mich sauber zu fegen. Auf seine Bitte hin wurde ich entlassen. Die Mädchen warteten am Zaun auf mich.

Wir kamen schließlich in die Wohnung der Frau zurück. Unsere Gastgeberin war gar nicht darüber erstaunt, dass wir die Nacht außer Hause verbracht hatten. Es stellte sich aber heraus, dass wir bestohlen worden waren – meine Schuhe waren weg und aus den Rucksäcken der Mädchen waren viele Sachen verschwunden.

Am nächsten Tag verließen wir Grajewo und gingen Richtung Łomża. Die ganze Zeit gingen wir zu Fuß. Anfangs ging ich noch in Socken (meine Schuhe waren schon nach ein paar Kilometern auseinandergefallen), später dann barfuß, als auch die Socken völlig zerrissen waren. Zwischen Zambrów und Czyżew ließ uns ein Mann einige Kilometer in seinem Fuhrwerk mitfahren. Er wollte aber etwas dafür bekommen. Wir hatten nichts, eines der Mädchen gab ihm also ihren wollenen Pullover. Den weiteren Weg gingen wir wieder zu Fuß. Bis nach Gostkowo war es zwar nicht mehr weit, aber uns schien der Weg dorthin sehr lang. Wir hofften jedoch darauf, bald unsere Familien wiederzusehen. In der Nähe unseres Dorfes sahen wir Kühe auf der Weide grasen. Dort bemerkten wir auch einen Jungen, der sich in unsere Richtung umdrehte. Als er uns kommen sah, lief er schnell zum Haus, laut rufend: „Unsere Mädchen kommen!“ Das war Halinas Bruder.

Es war der 1. Mai 1945. Alle, die im Haus waren, liefen auf den Hof hinaus. Sie konnten einfach nicht glauben, dass wir es waren!

So hat der Alptraum dieser neun Monate meines Lebens geendet.